Die heilige Wereburga hatte zum Vater Wulfer, der König von Mercia, und zur Mutter, die heilige Ermenilda, eine Tochter Ercomberts, des Königs von Kent, und der heiligen Serburga. In herrlichem Glanz strahlte ihre Geburt, da sie von dem mächtigsten angelsächsischen König abstammte. Sie war aber glücklich genug, sich durch einen Vorzug, den die Welt so sehr schätzt, nicht zu eitlem Stolz verleiten zu lassen, denn von Jugend auf hatte sie die menschliche Hoheit verachten gelernt. Sie hatte drei Brüder, von denen zwei, Wulfad und Rufin, die Märtyrerkrone empfingen. Kenred, der andere Bruder, starb in Rom im Ruf der Heiligkeit. Ermenilda, ihre tugendhafte Mutter hatte nichts unterlassen, um diese jungen Pflanzen, die ihr der Himmel anvertraut hatte, gut heranzubilden. Auch hatte sie den Trost, sie in der Gnade und Weisheit vor Gott und den Menschen aufwachsen zu sehen. Werburg hatte vor allen auf eine besondere Weise ihren Sorgen entsprochen. Ihre Demut, ihr Gehorsam und sanftes Wesen hatte etwas ganz Ungewöhnliches. Sie wohnte regelmäßig den gottesdienstlichen Verrichtungen mit ihrer Mutter bei. Allein da das öffentliche Gebet ihren Andachtseifer noch nicht zu befriedigen vermochte, verrichtete sie in ihrem Gemach noch besondere, die oft mehrere Stunden währten. Sie hatte ein heiliges Verlangen nach frommen Ermahnungen und gottseligen Reden. In einem Alter, wo man meistens nur an Spielen und eitlen Vergnügungen sich ergötzt, bemerkte man an ihr den Ernst, die Eingezogenheit, und den Geist der Abtötung, die schönen Kennzeichen vollkommener Seelen. Jede Freude, die nicht von dem Zeugnis eines guten Gewissens kam, hatte für sie nicht die mindesten Reize. Ihre Herzenszerknirschung war so lebhaft, dass sie nie aufhörte, ihr Elend und die unselige Notwendigkeit, von Gott entfernt zu leben, mit bitteren Tränen zu beweinen. Ihre Liebe zur Reinheit geriet bei dem Anblick der geringsten Gefahr in Schrecken. Sie bewahrte diese Tugend durch strenge Wachsamkeit über alle ihre Sinne, durch langes Fasten und unausgesetztes Gebet.
Wegen ihrer seltenen Schönheit, mit der die herrlichsten Eigenschaften und glänzendsten Tugenden vereint waren, warben viele der edelsten jungen Männer um ihre Hand, allein sie bestand fest auf dem Entschluss, den sie gefasst hatte, Gott ihre Jungfrauschaft zu weihen. Der Fürst der gegen Abend wohnenden Sachsen hatte ihr reiche Geschenke gesandt, um sie zu gewinnen, aber sie versuchte sie samt dem Heiratsantrag von sich abzulehnen, indem sie sagte, sie habe sich schon zu ihrem Bräutigam Jesus Christus, den Erlöser der Menschen, auserwählt. Einen noch glänzenderen Sieg erhielt sie über die Bemühungen Werbods, eines der ersten Großen des Hofes. Wulfer, der ihn wegen der wichtigen Dienste, die er ihm geleistet hatte, sehr liebte, versprach ihm seine Tochter zur Ehe, jedoch mit der Bedingung, dass sie ihre Zustimmung dazu geben müsste. Dieses Versprechen betrübte auf eine empfindliche Weise die Königin, und die zwei Prinzen, Wulfad und Rufin. Die beiden, die vor kurzem den christlichen Glauben angenommen hatten, eilten, unter dem Vorwand auf die Jagd zu gehen, zu dem heiligen Ceadda, dem Bischof von Litchfield, der eine in einem Forst gelegene Einsiedelei bewohnte. Dieser Heilige unterrichtete sie zuerst, taufte sie, und sandte sie dann wieder zurück. Werbod, der wusste, dass sie seiner Ehe entgegenstanden, beschloss ihren Untergang. Man sagt sogar, dass er sich von dem König einen seinen Absichten günstigen Befehl erwirkt habe, indem er ihn gegen seine Kinder dadurch einzunehmen wusste, dass er ihm mit den schwärzesten Farben den Besuch schilderte, den sie dem heiligen Ceadda abgestattet hatten, und falsche Zeugen unterstellte, die sie der schrecklichsten Verbrechen beschuldigen mussten. Dieser Treulose vermochte alles über Wulfer, und er war es auch, der ihn den Götzendienst zu begünstigen bewog. Allein die Strafe, die seine verabscheuungswürdigen Ränke verdienten, blieb ihm nicht aus. Kaum waren die Prinzen ermordet, als der König den lebhaftesten Schmerz empfand. Durch die gerechten Vorwürfe seines Gewissens in Schrecken gesetzt, ging er in sich, tat wegen seines Verbrechens Buße, und befolgte in allem den Rat der Königin, und des heiligen Ceadda. Er zertrümmerte alle Götzenbilder, änderte ihre Tempel in Kirchen um, stiftete die Abtei von Peterborough und die Priorei von Stone, in dem seine zwei Söhne begraben wurden, und suchte überall die Verehrung des wahren Gottes durch seinen Eifer und seine Beispiele zu verbreiten.
Die heilige Wereburga wurde durch eine so unverhoffte Bekehrung ganz entzückt, und entdeckte nun ohne Furcht ihrem Vater das glühende Verlangen, das sie zum klösterlichen Leben hatte. Anfangs versagte ihr der König seine Zustimmung, schließlich aber wurde er genötigt, den wiederholten Bitten seiner Tochter nachzugeben. Er erhob sich dann über die Regungen der Natur, und brachte Gott großmütig das Opfer, das er von seiner Zärtlichkeit forderte. Von seinem ganzen Hofstaat begleitet, führte er selbst seine Tochter nach Ely. Die heilige Edildruda, die Äbtissin des Klosters, kam in feierlichem Zug mit allen Nonnen, die Prinzessin an der Pforte zu empfangen. Werburg bat dann auf den Knien liegend um die Gnade, in ihre Gemeinschaft aufgenommen zu werden, und zwar als eine Büßerin, was ihr auch bewilligt wurde. Die Demut und Geduld, mit der sie die gewöhnlichen Prüfungen aushielt, bewiesen deutlich, dass ihr Beruf von Gott kam. Sie hatte keinen eigenen Willen mehr, oder besser zu sagen, sie handelte stets nur nach dem Wink ihrer Oberin. Ihr Vater wohnte mit mehreren anderen Fürsten bei, als sie feierlich das Ordensgelübde ablegte. Durch genaue Beobachtung der vorgeschriebenen Regeln, durch Liebe zum Gebet, zur Betrachtung und durch stete Bußfertigkeit wurde unsere Heilige bald ein Muster ihrer Mitschwestern. In der Folge verließ sie das Kloster Ely, auf die dringenden Bitten des Königs Ethelred, ihres Oheims, der ihr den Auftrag gab, die klösterliche Zucht bei allen Nonnen seines ganzen Reiches wiederherzustellen. Dieser Fürst gab auch hinreichendes Grundvermögen, um drei Klöster zu bauen.
Werburg unterließ nichts, um die ihrer Sorge anvertrauten Seelen immer mehr und mehr in der Heiligkeit zu vervollkommnen. Und selbst ihre Lebensweise war ein ununterbrochener Unterricht in allen Tugenden. Neben den vorgeschriebenen Tagzeiten betete sie jeden Tag den Psalter auf den Knien. Nach der Mette blieb sie in der Kirche, und betete da, bis die Sonne aufging, entweder kniend oder das Angesicht zur Erde geneigt. Ihre Andacht war so zärtlich, dass man sie oft mit Tränen in den Augen erblickte. Sie fand eine außerordentliche Wonne beim Lesen der Lebensbeschreibungen der Väter der Wüste, und strebte unausgesetzt, ihren Eifer für die evangelische Vollkommenheit nachzuahmen. Daher die Liebe der Abtötung, die man an ihr bemerkte. Ihre Nahrung war ganz einfach, und diese gestattete sie sich des Tages nur einmal. Als ihr Gott die Stunde ihres Todes geoffenbart hatte, sagte sie diese ihren Schwestern vorher. Dann besuchte sie noch einmal ihre Klöster, um ihnen die letzten Verhaltensbefehle zu erteilen, und starb in Trentham, am 3. Februar gegen Ende des 7. Jahrhunderts. Sie wurde, ihrem Wunsch gemäß, zu Hambury begraben. Im Jahr 708 wurde ihr Leib, in Gegenwart des Königs Coelred, seiner Hofbedienten und mehrerer Bischöfe, erhoben. Da man ihn noch ganz unverwest fand, wurde er am 21. Juni in einen sehr reichen Sarg gelegt. In diesem Zustand blieb er zweihundert Jahre. Aber während der Einfälle der Dänen zerfiel er in Staub. Im Jahr 873 brachte man den Sarg unserer Heiligen nach West-Chester in eine prachtvolle Kirche, die später zur Kathedrale erhoben wurde. Bei Bradshaw finden wir den umständlichen Bericht über mehrere Wunder, die durch die Fürbitte der heiligen Werburg gewirkt wurden, alsda sind: Heilungen, die die Kräfte der Natur übersteigen, die Befreiung von Chester, das im Jahr 1180 von den Walisern, Dänen, und Schottländern belagert wurde, und die plötzliche Löschung eines schrecklichen Brandes, die, als man in Prozession mit dem Sarg der Heiligen umging, erfolgte.
Aus „Tiere unterm Regenbogen“, von Aloysius Roche, Berlin 1954:
Graugänse
Die heilige Verylde ist keine sehr bekannte Heilige, wenigstens heutzutage. Aber zu ihrer Zeit – es war das achte Jahrhundert – war sie berühmt. Die Stadt Gent, in deren Nähe sie lebte, erwählte sie sich als Patronin.
Während eines besonders harten Winters kamen Graugänse auf der Suche nach Nahrung landein geflogen und ließen sich auf einem Feld nieder, das ihrem Kloster gehörte. Graugänse sind sehr große Vögel, die man heute noch in größerer Zahl auf den Klippen-Inseln um Schottland findet.
Die Arbeiter, die das Klosterland bestellten, entdeckten, dass diese Graugänse ganz zahm waren – sie umzingelten sie und trieben eine davon in ein kleines Gehege mit der Absicht, sie zu essen. Aber die Oberin des Klosters fand sehr bald heraus, was geschehen war, und gab strenge Weisung, dass auf keinen Fall einer der großen Wildvögel getötet werden dürfte. „Sie sind unsere Gäste“, sagte sie, „sie haben ein Recht auf unsere Gastfreundschaft!“ So bekamen sie ein köstliches Nachtessen von Körnern und dazu das feste Versprechen völliger Freiheit für den folgenden Tag.
Irgendein Vielfraß aber stand während der Nacht auf und stahl eine der Graugänse, er dachte, das könne ja keiner merken. Aber es wurde doch entdeckt. Am nächsten Tag, als die Heilige die Graugänse freundlich entlassen wollte, beobachtete sie, wie sie der Reihe nach durch das Pförtchen kamen, und es kam ihr der Verdacht: „Da fehlt doch eine!“ Die Klosterglocke wurde geläutet, und als die sämtlichen Dienstleute versammelt waren, machte sie sich daran, die Wahrheit herauszufinden. Der Dieb gestand und bekam ohne Zweifel eine handfeste Buße. Die fehlende Gans wurde zurückerstattet und nahm ihren Platz am Ende der Reihe ein.
Eine Engländerin, die es auch mit Graugänsen zu tun hatte, war die heilige Werburg, die in Chester begraben ist. Eine Zeitlang lebte sie im englischen Weedon. Dahin kamen einst sehr viele Wildgänse, die sich daran machten, die Ernte, die dem Kloster gehörte, gänzlich zu vernichten. Natürlich beklagten sich alle Anwohner, ein armes Volk, dessen tägliches Brot von dieser Ernte abhing. Sie brachten ihre Klagen bis zur Oberin vor.
Einwohner eines Klosters müssen lernen zu tun, was ihnen aufgetragen wird, sonst könnte kein Kloster existieren. Werburg dachte, auch diese lästigen Gänse könnten einmal etwas Gehorsam leisten. Sie rief einen der Landarbeiter und gab ihm folgenden Auftrag: „Geh“, sagte sie, „und bring mir die Gänse her. Ich muss ihnen etwas sagen.“
Der Mann kratzte sich den Kopf, und das war nicht verwunderlich; er dachte, wie in aller Welt sollte es nur möglich sein, die Graugänse zusammenzutreiben und in den Vorhof des Klosters zu bringen. „Ja“, sagte er zu sich selbst, „ich kann’s eben nur versuchen, und wenn es dann misslingt, geht es mich schließlich nichts an.“
Er sah das Ganze eigentlich als eine Art Scherz an, als er in die Felder ging und nun den Graugänsen mit lauter Stimme zurief, die Mutter Oberin wolle sie sozusagen im Sprechzimmer empfangen. Aber wie erstaunt war er, als er diese wilden Geschöpfe flügelschlagend und laufend zugleich in Richtung auf das Kloster eilen sah! Am Tor ließen sie sich dann für die Nacht nieder.
Als der Morgen kam, erschien Werburg, und nachdem sie den Gänsen Vorwürfe über ihr übles Verhalten gemacht hatte, befahl sie ihnen, wegzufliegen und in Zukunft die Gegend zu meiden. Sie hatte kaum geendet, da erhob sich die ganze Schar Graugänse wie eine Wolke und flog im Kreis über den Hof, - wie jeder dachte, als eine Art Vorbereitung zur Abreise. Aber es musste wohl irgend etwas nicht in Ordnung sein, denn anstatt fortzufliegen, ließen sich die großen Vögel auf dem Klosterdach nieder und begannen, die Luft mit ihrem Geschrei zu erfüllen.
Darüber wurde Werburg nachdenklich und versuchte, das Geheimnis zu lösen, das diesen lärmenden Klagen zu Grunde lag. Sie erhob ihre Stimme und sagte zu den Umstehenden: „Wenn diese armen Vögel etwa von einem von euch ein Unrecht erlitten haben, dann soll der jetzt vortreten und es sagen und seine Schuld zugeben!“ Daraufhin bekannte einer der Männer, dass er eine der Gänse gefangen und sie an einem verborgenen Ort versteckt hatte.
Natürlich musste er die Graugans sofort wieder hergeben. Das Tier war lebendig und unverletzt. Sobald es in Freiheit gekommen war, vereinte es sich mit den anderen, und, wie auf ein gegebenes Zeichen, erhob sich dann die ganze Schar in die Luft und verschwand am Horizont.
Werburg beobachtete sie, bis sie außer Sicht waren, und als sie ins Kloster zurückkehrte, murmelte sie für sich die Worte der Heiligen Schrift: „All ihr Vögel in der Luft, lobpreiset den Herrn!“