Wie sind oft die Sorgen und Lasten einer armen Familie, des Vaters und der Mutter, die mit schwerer Händearbeit für den Unterhalt des Hauses schaffen müssen, hart und drückend! Und wenn noch außerordentliche Heimsuchungen sich in einer Familie melden – und wo fehlen sie? – ist es dann unter solchem Druck der Mühen und Arbeiten noch möglich, sich zu heiligen? Gewiss, da erst recht! Ein hellleuchtendes Beispiel einer heiligen Familienmutter ist für unsere Zeit die selige Anna Maria Taigi, die erst am 30. Mai 1920 der Ehre der Seligsprechung teilhaftig geworden ist.
Anna Maria, geboren zu Siena in Oberitalien am 29. Mai 1769, war die Tochter des Apothekers Ludwig Gianetti. Schwere Vermögensverluste brachten die Familie schier an den Bettelstab, so dass sie genötigt war, eine bescheidene Dienststelle in Rom anzunehmen. Die Tochter wurde zu Ordensfrauen geschickt, die sich mit der Erziehung armer Kinder beschäftigten, und musste, kaum dreizehn Jahre alt, ihr Brot als Seidenspulerin und dann als Kammerjungfer verdienen. Den Lockungen der Welt, die auf Mädchen ihres Alters so großen Reiz ausüben, konnte auch Anna nicht widerstehen. Lebenslustig, wollte sie alle Freuden genießen, ohne zu ahnen, welchen Gefahren sie sich aussetzte. Nur ihre gute religiöse Erziehung bewahrte sie vor dem Fall.
Im Jahr 1790 vermählte sich Anna Maria mit einem braven Herrschaftsdiener. Im ersten Jahr ihrer Ehe frönte sie noch der Eitelkeit und Vergnügungssucht. Gottes Gnade aber pochte immer eindringlicher an ihr Herz, um sie mehr und mehr vom Irdischen abzuziehen. Da raffte sie sich zu einer Lebensbeichte auf und fand nach anfänglichem Missgriff einen Seelenführer, der sie nach ihrer entscheidenden „Bekehrung“ zum gefügigsten Werkzeug in Gottes Hand machte. Ihre reichen Naturanlagen, ein klarer Verstand, ein tiefes edles Gemüt, eine alle und alles umfassende Hochherzigkeit, stellte sie auf das eine Streben ein, das Vollkommenste in ihrem Stand zu erreichen. Sie entsagte allem unnötigen Kleideraufwand, wie einst die heilige Franziska Romana, die ja auch eine römische Hausfrau war, und gab sich mit großem Eifer religiösen Übungen hin. Der Zug ihres großen Herzens war nach Gott gerichtet. Diesem Zug zu folgen, musste sie sich freilich oft der Nachtruhe berauben, wie sie überhaupt gerne zu Opfern und äußeren Bußübungen bereit war. Nur ihre ehelichen und mütterlichen Standespflichten und ihr Seelenführer konnten ihrem Bußeifer Schranken setzen.
Im religiösen und innerlichen Leben der seligen Anna Maria Taigi war gerade das der Mittelpunkt, was er für jeden Christen sein soll, was auch der Brennpunkt aller Geheimnisse des Erlösers ist, die heilige Eucharistie. In ihr fand sie die Süßigkeiten des göttlichen Kindes von Betlehem, sein verborgenes Leben zu Nazaret, die Verdemütigungen von Kalvaria. Der Anblick der heiligen Hostie rührte die Selige zu Tränen. Immer wieder musste sie an die unermessliche Liebe Jesu denken, der Nahrung für unsere Seele werden wollte, um stets bei uns zu sein und ganz sich mit uns vereinigen zu können. Kardinal Pedicini, der Jahre lang mit ihrer religiösen Gedankenwelt vertraut war, versichert: „Es fällt überaus schwer, Anna Marias glühende Begeisterung für dieses erhabene Geheimnis glaubwürdig darzustellen. Auch reichen die Worte nicht aus, genau die Gefühle zu beschreiben, die sie vor dem Tabernakel hatte, oder die himmlischen Gunstbezeigungen zu schildern, die ihr da selbst so reichlich zuteilwurden.“ Es war immer ein mächtiger Eindruck, den die tiefe Sammlung und engelgleiche Haltung auf alle Augenzeugen ausübte, wenn Mutter Taigi vor dem Allerheiligsten kniete. Ihre Augen waren halb geschlossen, doch hier und da konnte man ihren strahlenden Blick gewahren. Kein Geräusch lenkte sie ab. Wie es schien, merkte sie gar nichts von der Außenwelt, so war sie vertieft in Betrachtung des Geheimnisses der Liebe. Was in ihrem Inneren vorging, das verrieten reichliche Tränen und tiefe Seufzer. Solche, die neben ihr in der Kirche knieten, versichern, sie hätten bei ihr ein dumpfes Geräusch vernommen, wie wenn das Herz die Rippen sprengen wollte, die es noch hinderten, zu dem in der Eucharistie verborgenen Gott zu fliehen. Andere bezeugen, sie habe ein so feines Gefühl gehabt für die Gegenwart Jesu im Sakrament, dass sie beim Betreten einer bislang fremden Kirche von selbst gleich herausfand, in welchem Altar das Allerheiligste aufbewahrt wurde. Als heranwachsende Jungfrau ging Anna Maria jeden Sonn- und Feiertag zum Gastmahl der Liebe, als Hausfrau und Mutter, soweit dies ihr Zustand erlaubte. Von 1790 an war sie fast täglich bei der Heiligen Messe und an der Kommunionbank zu sehen.
Ach ja, wird da manche geplagte Familienmutter seufzen, wer das kann! Ich habe anderes zu tun. Nun, auch Mutter Taigi wusste dies und andere fromme Übungen so einzurichten und zu so früher Stunde vorzunehmen, dass keinerlei Pflichten darunter litten und die Hausgeschäfte nicht die geringste Schmälerung erfuhren. Ihre Frömmigkeit war eine durchaus praktische. Ihre allererste Sorge war und blieb, ihre Pflichten als Gattin und Mutter aufs genaueste zu erfüllen. Darin suchte sie ihre Vollkommenheit. Ihr Mann Dominikus Taigi, dessen Namen sie unsterblich gemacht hat, war zwar religiös und gutherzig, jedoch etwas beschränkt, launisch und auffahrend. Da besaß die treffliche Gattin aber stets so viel Selbstbeherrschung, dass sie allen seinen Wünschen, wo immer sie konnte, mit der größten Liebe und Freundlichkeit entgegenkam. Wie ihr Mann später vor dem geistlichen Gericht selber offenherzig erklärte, sei es gar oftmals vorgekommen, dass er, wenn er vom Dienst nach Hause kam, seine Frau von einer Menge Leute in Anspruch genommen sah. Es war in der Zeit, wo sie in ganz Rom als hochbegnadete Heilige gesucht und bekannt war. Da habe sie sogleich alle, auch die höchsten Herrschaften, stehen lassen und sich dem Mann mit aller Dienstfertigkeit gewidmet. Von Herzen gerne hätte sie ihm die Schuhe ausgezogen, wenn er es geduldet hätte. Gar oft sei er ermüdet, traurig oder übel gelaunt zurückgekommen; da habe sie aber durch ihre Liebenswürdigkeit ihn gleich wieder zu beruhigen und aufzuheitern gewusst. Mit höchstem Zartsinn und unvergleichlicher Güte habe sie ihn zur Ablegung von Fehlern gemahnt und es klug verstanden, den Frieden in der Familie aufrecht zu erhalten. Das sei bei den verschiedenen Charakteren nicht so leicht gewesen. Eine Schwiegertochter, die Frau des ältesten Sohnes, die mit bei ihnen wohnten, sei höchst störrigen Sinnes gewesen und habe in allem die Herrin spielen wollen. Aber die selige Mutter habe diese immer in höchst passender Weise in den Grenzen zu halten verstanden, und das habe sie mit so viel Leutseligkeit getan, dass es nicht zu sagen wäre. Also ganz die gleichen Schwierigkeiten wie in so vielen unserer Familien!
Die Verwaltung des Hauswesens, die Erziehung der Kinder und die Sorge des Unterhaltes der nicht kleinen Familie lag praktisch in den Händen der Mutter. Sieben Kindern hatte sie das Leben gegeben, wovon indes zwei in jugendlichem Alter starben. Außerdem musste sie auch ihre alten Eltern mitversorgen. Wurden ihr später reichliche Unterstützungen angeboten, so nahm sie doch nie etwas für sich und die Ihrigen an. Als die Königin Luise von Etrurien ihr aus Verehrung ein mit Gold gefülltes Kästchen anbot, wies sie es mit den Worten zurück: „Wie Sie doch einfältig sind! Ich diene einem Herrn, der viel reicher ist als Sie.“ Durchdrungen vom christlichen Geist, blieb ihre Familie arm, aber nichtsdestoweniger höchst zufrieden. Morgens und abends versammelte die Mutter die ganze Familie zum gemeinsamen Gebet oder zu einer frommen Lesung, woran sie belehrende Gespräche knüpfte. Wie ein sichtbarer Schutzengel überwachte sie ihre Kinder. Als sie, schon herangewachsen, in den Ehestand zu treten wünschten, gestattete sie den jungen Verlobten nicht, ohne Aufsicht miteinander zu verkehren.
Wie Christus nicht ohne Kreuz, so ist auch kein Christ ohne Leiden zu denken. Schon gar nicht eine Mutter. Die selige Anna Maria Taigi hatte nie Mangel an Leiden. Innere Verlassenheit, schmerzliche Krankheiten, äußere Verfolgungen seitens gehässiger Menschen kamen über sie. Oft hat es ihr geschienen, wie sie selber sagt, als ob das qualvolle Martyrium nicht mehr ertragen werden könne. Die starkmütige Opferseele ertrug es aber weiter.
Der Güte Gottes gefiel es, Anna Marias außerordentliche Tugendhaftigkeit, die sie sorgsam hütete, auch auf außerordentliche Weise der Mitwelt kundzutun. Viele wunderbare Dinge sind von ihr durch sichere Zeugen beglaubigt. Durch übernatürliche Erleuchtungen erkannte sie den Zustand der Gewissen, zukünftige Dinge, die Absichten der Vorsehung bei den Bedrängnissen der Kirche, für die sie sich dann wieder durch Gebet und Opfer verzehrte. Groß war ihre Einsicht in die Geheimnisse des Glaubens, mächtig ihre Sehnsucht nach dem Besitz Gottes. Da kniet sie einmal in der St.-Karls-Kirche in seliger Erwartung des glücklichen Augenblickes, da sie den empfangen soll, der die Sonne des Tages für sie ist. Kann sie oder kann der göttliche Liebhaber der Seelen den gnadenvollen Augenblick nicht mehr erwarten? Schon wendet sich der Priester zum Volk und beginnt: Ecce agnus Dei, ecce qui tollit . . . Noch hat er den Satz nicht vollendet, als sich die heilige Hostie aus seiner Hand löst, einige Sekunden frei in der Luft schwebt, dann legt sie sich vor aller Augen auf die Zunge der in glühender Sehnsucht harrenden Seligen.
Bei solcher Gnadenauszeichnung der frommen Frau, die ja Gott seinen Getreuen meist um der Mitmenschen wegen gibt, war es nicht zu verwundern, dass das kleine Häuschen Taigis einen der stärksten Anziehungspunkte der Ewigen Stadt bildete. Leute jeden Standes, die höchsten Persönlichkeiten, geistliche und weltliche, empfahlen sich dem Gebet der angesehenen Dienerin Gottes und erbaten ihren Rat. Selbst die Päpste Pius VII., Leo XII., Gregor XVI. legten die größte Hochachtung vor der armen Arbeiterfrau an den Tag. Sie selber aber betrachtete sich immer als die letzte Frau des Volkes, die nur da sei, um anderen zu dienen. So fügte es sich, dass sie auch ganz unbeachtet, ohne Aufsehen aus dem Leben schied. Um so herrlicher wurde ihre Grabstätte in S. Chrysogono, die gerne von den Rompilgern besucht wird.
Die selige Anna Maria Taigi sollten besonders die Eltern verehren, die ihre Kinder auf die erste heilige Kommunion vorbereiten. Denn hierin erwies sich die vorbildliche Mutter als eifrigster und erfolgreicher Katechet ihrer eigenen Kinder. Das Ziel der Sonntagsspaziergänge der ganzen Familie war gewöhnlich der Besuch des Allerheiligsten in einer entfernteren Kirche.