Es war im Jahr 1257, am 14. August.
In der Dominikanerkirche zu Krakau in Polen haben die Mönche das Chorgebet beendet. Hochfeierlich hatten sie es gestaltet als Einleitung für das Fest von Mariä Himmelfahrt am folgenden Tag.
Nur einer der Mönche, alt und gebrechlich, Hyazinth mit Namen, kniet noch umleuchtet von der Abendsonne, mutterseelenallein im Chorgestühl, ganz dem Gebet hingegeben.
Immer war Hyazinth ein eifriger Beter und ein großer Marienverehrer gewesen, aber heute, am Vortag des Hochfestes der Himmelfahrt Unserer Lieben Frau, kann er kein Ende und kein Amen finden und merkt bei all dem nicht, dass er aus dem Beten allmählich ins Träumen gerät.
Drüben im waldreichen Schlesien war er vor vierundsiebzig Jahren als Grafensohn geboren worden. Gleich nach der Geburt hatte ihn die Mutter der Himmelskönigin geweiht. So war er vom ersten Atemzug an ein Kind Mariens gewesen. Und die Tatsache, dass er lebenslang ein Marienkind blieb, war für ihn eine hohe Gnade und die schönste Freude des Alters. Nur zu gut wusste er, dass Mariens Schutz ihn allezeit umsorgt hatte. Allein seiner ununterbrochenen Mutter-Gottes-Verehrung schrieb er es zu, dass er sich fern der Heimat auf den Schulen in Prag und Bologna ein gutes Herz und einen frischen Sinn erhalten hatte. Auch war er davon nicht weniger überzeugt, dass es auch die Gottesmutter war, die ihm auf sein dringendes Gebet hin die Gnade vermittelt hatte, dass er Priester wurde.
Mitten in diesen Gedanken gehen dem alten Beter, der nicht merkt, dass es um ihn bereits Nacht geworden ist, Worte heißen Dankes über die Lippen, und dann träumt er betend weiter.
Mit seinem Bruder Ceslaus war er vor vierzig Jahren nach Rom gepilgert. Dort begegnete er einem Mann, einem Heiligen, so groß, wie es alle hundert Jahre nur einmal einen gibt, dem heiligen Dominikus. Ihm hatte er sich angeschlossen und war in den Dominikanerorden eingetreten, in jenen Orden, dessen Mitglieder die Verehrung der lieben Mutter Gottes besonders pflegen.
Nach der Heimkehr aus Italien hatte er dann den neuen Orden in Polen eingeführt und in Krakau und vielen anderen polnischen Städten Klöster gegründet. Sein Beispiel zog an und riss mit, so dass überall, wo sein Wort erklang, viele junge Menschen Geld und Gut auf die Marienaltäre des Landes opfernd niederlegten und sich ihm anschlossen.
Mitternacht ist längst vorüber, als Hyazinth sich diesen Erinnerungen hingibt. Immer nur dankt er der Himmelskönigin für alles, was er zu Gottes und ihrer Ehre hatte wirken dürfen, vierzig Jahre lang. Nicht zuletzt sagt der betende Träumer der Mutter Gottes in dieser Nacht vor ihrem Hochfest ein herzliches Lob dafür, dass er vierzehn Jahre lang als Missionar den Preußen und Russen und anderen Völkern bis an die Grenzen von China und Tibet das Evangelium hatte verkünden dürfen.
Dann hatte sich – überaus schön – jenes unvergessliche Ereignis in Kiew zugetragen. Gerade zu der Zeit, als er dort ein Kloster gründete, eroberten die grausamen Tataren mordend und brennend die Stadt. Da hatte er, Hyazinth aus dem Tabernakel den Speisekelch mit den heiligen Hostien genommen, um das Höchste Gut in Sicherheit zu bringen. Und als er mit dem Allerheiligsten vor der Brust sich entfernen wollte, war das Marienbild auf dem Liebfrauenaltar lebendig geworden und hatte ihm zugerufen: „Nimm mich mit!“ Nur zu gerne war er dem Wunsch nachgekommen. Mit dem Kelch in der rechten und dem Muttergottesbild in der linken Hand war er ungehindert durch die Feinde hindurch gegangen, und nicht ein Haar war ihm gekrümmt worden.
Immer wieder dankt bei diesen Erinnerungen der träumende Beter mit liebendem Sinn der Königin seines Herzens für alle Hilfe und allen Schutz, die ihm lebenslang von ihr geschenkt wurden. Immer wieder dankt Hyazinth, aber auf einmal weicht die Nacht, die ihn umgibt, einem hellen Licht. Engel mit siebenfarbigen Flügeln ziehen ohne Zahl heran. Die Himmelskönigin, leuchtend wie die Sonne, ist in ihrem Gefolge. Mit liebem Lächeln nähert sich Maria dem Betenden und winkt ihm lieb und sagt:
„Komm, du hast mich damals mitgenommen, und du hast mich durch dein ganzes Leben getragen, dafür nehme ich dich heute mit bei meiner Himmelfahrt.“
So spricht die Gottesmutter, und während die Engel himmelschön das Salve Regina anstimmen, zieht Hyazinth ein ins Paradies.