Kinder können grausam sein. Wie herzlos verfolgen sie oft ihre Mitschüler, die mit einem körperlichen Gebrechen behaftet sind, mit ihrem Spott und machen sich keine Gedanken darüber, welche Seelenqualen sie diesen Armen dadurch bereiten. Auch der kleine Grafensohn Notker, den seine Eltern um die Mitte des 9. Jahrhunderts in die Klosterschule von St. Gallen brachten, mag bitter genug unter dieser Spottlust der Jugend gelitten haben. Er stieß mit der Zunge an, und es lässt sich denken, wie sein stammelndes Sprechen alle die andern übermütigen Adelssöhne, die den Benediktinern zur Erziehung anvertraut waren, zum Lachen reizen musste. Im Nu hatte Notker den Spitznamen „der Stammler“ – ein Name, der ihm zeitlebens blieb und mit dem er in die Geschichte einging.
Sicherlich trug seine Behinderung im Sprechen und die Furcht vor dem Ausgelachtwerden viel dazu bei, dass der Knabe sich mehr und mehr in sich selbst zurückzog und für sich allein blieb. Er „floh der Brüder wilden Reihen“ und suchte mit dem frühreifen Ernst, den solche „Gezeichnete“ nicht selten haben, an den Lesetischen der großen Klosterbibliothek Zerstreuung und Befriedigung, während seine Kameraden sich in frohem Spiel tummelten. Bei solch ungewöhnlichem Lerneifer war es nur ganz natürlich, dass der glänzend begabte Junge bald der beste Schüler von St. Gallen wurde und die Mönche, aus deren Schule schon so viele berühmte Kirchen- und Staatsmänner hervorgegangen waren, mit Stolz auf Notker sahen, der den Ruhm der St. Gallener Klosterschule noch um ein bedeutendes zu mehren versprach. Wie begrüßten sie es, als Notker den Wunsch äußerte, unter die Söhne des hl. Benedikt aufgenommen zu werden! Bei ihm waren außergewöhnliche wissenschaftliche Begabung und tiefe, lautere Frömmigkeit in schönster Harmonie. So wurde Notker nicht bloß zum größten Gelehrten des Klosters in den Zeiten der Karolinger, sondern auch zu einem vorbildlich gewissenhaften, heiligen Mönch. So sehr er in der stillen Welt der alten Folianten lebte, er ging darin nicht auf. Er wurde nicht zum einseitigen, lebensfremden Gelehrten. Er liebte es, in den freien Erholungsstunden sich still aus dem Kreise der sich fröhlich unterhaltenden Mönche zu schleichen und die Rolle des Krankenbruders zu übernehmen. Er ging durch die Krankenstuben, bettete die Leidenden um, reichte ihnen Arznei und erfüllte ihre Wünsche, tröstete sie und gab ihnen beim Abschied ein kräftiges Schriftwort für die schlaflose Nacht. Durch strenge Bußwerke und harte Kasteiungen suchte Notker seine Seele mehr und mehr zu läutern und Gott wohlgefällig zu machen. Er wusste: Wie der Bauer den Acker mit dem Pflug aufreißt, um im Herbst von ihm Früchte zu ernten, so muss auch der Mensch seinen Leib mit der Pflugschar durchziehen, muss ihn streng halten, muss ihm schmale Kost, Schläge und Wunden zumuten, wenn nicht üppiges Unkraut aufwachsen und die Seele ersticken soll. Wie ernst Notker seinen Beruf als Mönch und Priester auffasste, zeigt sein Gedicht:
Du bist zum Priester des Herrn geweiht;
Was kümmern dich Tand und Eitelkeit,
Dass du, der Welt zugewandt,
Unreines rührest mit reiner Hand?
Nicht darfst du wenden hell und klar
Nach schandbaren Dingen der Augen Paar;
Zu des Himmels Höhen schlage sie auf
Und betrachte der Sterne ewigen Lauf.
Dir heißt es Sünde, in Liebeslust
Zu küssen und kosen Brust an Brust;
Kein lüsternes Wort entfliehe dem Mund,
Dem Gottes Ruhm und Ehre kund.
Gar vieles befiehlt der Herr dein Gott;
Dein Ohr, es achte auf sein Gebot.
Die Nüster trinke des Himmels Luft,
Bis Gott im Himmel dich zu sich ruft.
Dieses Gedicht zeigt uns den Gelehrten und Heiligen von einer neuen Seite: Notker war auch ein hochbegabter Dichter. Die Dichtkunst St. Gallens hat in ihm einen ihrer bedeutendsten Schöpfer erhalten. Seine Gedichte sind voll zarten, innigen Lebens und lassen die Tiefe seines Gemüts, sein Erfülltsein von inniger Gottesminne spüren. Der „Stammler“ hat in seinen Gedichten, die er vielfach selber vertonte, wortgewaltig zu seinen Zeitgenossen gesprochen und nicht wenige im Innersten gepackt und zu Gott zurückgeführt. Die meisten seiner Lieder hat der Sturm der Zeit verweht. Eines aber erbaut auch heute noch durch seinen tiefen Ernst jedes fromme Gemüt, das: „Media vita – mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben.“ Wenn dieses Lied auch ohne geschichtlichen Nachweis Notker zugeschrieben wird, so entspricht es doch ganz und gar seiner ernsten Lebensauffassung, seinem ständigen Gerüstetsein auf den Boten Gottes.
Unsterbliche Verdienste erwarb sich Notker um das Kirchenlied und den Choralgesang im ganzen Abendland. Die Ausbreitung des gregorianischen Gesangs in den deutschen Klöstern und Domkirchen ist fast ausschließlich das Verdienst des "Stammlers" von St. Gallen, dessen Mund nicht müde wurde, immer neue Harmonien zum Lob Gottes anzustimmen. Jahrhundertelang wurden seine frommen Lieder und Sequenzen beim Gottesdienst gesungen. Viele Lehrer des Choralgesangs erhielten von Notker Unterweisung und nahmen seine heilige Begeisterung mit hinaus in ihre Schule.
An dem großen Weltgeschehen nahm der Dichter- und Sängermönch, der ernste, verschlossene Gelehrte wenig Anteil. Und doch brachte Kaiser Karl der Dicke gerade ihm besonderes Vertrauen entgegen und holte sich wiederholt bei Notker Rat in Regierungsfragen.
Die letzten Jahre seines Greisenalters verbrachte der Diener Gottes fast ganz in religiösen Übungen und in der Vorbereitung auf den Heimgang in die Ewigkeit. Der plötzliche Tod eines Neffen, der in blühendem Jugendalter aus der Mitte der Klosterbrüder gerissen wurde, wurde ihm zur ernsten Mahnung. Stunden- ja ganze tagelang kam er nun nicht mehr aus der Klosterkirche. Mit dem Gebet für den toten Neffen verband er das Gebet um einen seligen Heimgang für sich selbst. Der Gedanke an den Tod, der ihm zeitlebens vertraut war, hatte für ihn nichts Erschreckendes. Wer so wie er immer zum Sterben bereit ist und die Unschuld des Herzens in treuem Kampf sich bewahrt hat, kann jederzeit ohne Furcht vor Gottes Richterstuhl treten. So ging Notker sanft und still wie er gelebt hatte, umringt von seinen weinenden Klosterbrüdern, am 6. April 912 in die Ewigkeit hinüber. Notkers Reliquien werden im Münster von St. Gallen aufbewahrt und verehrt. Seine Lebensgeschichte verfasste um 1230 ein Mönch Ekkehard zur Unterstützung der ab 1215 von Abt Ulrich angestrebten Seligsprechung. Notker wurde 1513 seliggesprochen, die Verehrung wurde 1624 bestätigt.