Die liebe heilige Elisabeth, die Wartburgherrin und Schutzfrau der deutschen Lande, steht fort und fort zahllosen Frauen als erhabenes Vorbild christlichen Tugendlebens, stillen Duldens und heroischer Liebe vor Augen. Scharen von Klosterfrauen und Krankenpflegerinnen haben aus dem unvergleichlichen Beispiel und dem leuchtenden Opfermut dieser mildherzigen, hingebungsvollen Mutter der Armen und Kranken Ermunterung und Kraft zum eigenen stillen Opferleben geschöpft. Sollte St. Elisabeth, die fromme Frau mit dem weiten Mutterherzen, nicht vor allem auch ihren leiblichen Kindern Führerin auf dem Weg der Heiligkeit geworden sein? In allen Denkmälern und Urkunden, die von ihnen auf uns gekommen sind, beweisen sie sich voll Dank gegen Gott, Abkömmlinge einer Heiligen geworden zu sein, und führen vor allen Fürstentiteln und Adelswürden als größte Auszeichnung: „Sohn“ oder „Tochter der heiligen Elisabeth“. Ihr Sohn Hermann und die ältere Tochter Sophie suchten in der Welt ihre Herrschaftsrechte zu behaupten, wurden aber, gleich ihrer Mutter, das Opfer der Ungerechtigkeit der Welt und auf diesem harten Weg zur Seligkeit geführt. Für die beiden jüngeren Töchter hatte die Mutter selbst friedlichere Zufluchtsstätten auserwählt, für die eine Kloster Kitzingen, für die andere, unsere selige Gertrud, Kloster Altenberg. Als Äbtissinnen, als Vorsteherinnen ihrer Gemeinden wandelten beide die Höhenpfade der Vollkommenheit ihrer heiligen Mutter nach.
Gertrud war Elisabeths jüngstes Kind, ein wahres Schmerzenskind. Schon vor der Geburt hatten es die frommen Eltern zum Dienst des Herrn bestimmt. Es war in jenen sorgenvollen Tagen, da Elisabeth das Kreuzfahrerzeichen im Gewand des Landgrafen Ludwig gefunden und nach Überwindung des ersten heftigen Schreckens das große Wort der Ergebung gesprochen hatte: „Gegen Gottes Gebot will ich dich nicht zurückhalten. Er gebe dir, seinen Willen zu tun. Ich habe dich und mich ihm geopfert.“ Landgraf Ludwig zog dann in den Kreuzzug fort. Als dann die Trauerbotschaft von seinem raschen Tod nach Thüringen gelangte, hatte das liebe Kindlein schon das Licht der Welt erblickt, 1227, so dass seine ersten unbewussten Tränen sich mit dem strömenden Weh der zu tiefst verwundeten Kreuzfahrerwitwe vermischten. Klein Traudchen ruhte, in harmlosem Schlummer, wohlgeborgen am Busen der unglücklichen Fürstin, als sie den schroffen Pfad der Wartburg hinabstieg und für ihre vier vater- und heimatlosen Waislein vergeblich an Eisenachs Türen um Unterkunft klopfte. Welche Opfer forderte doch der Allgütige von dieser heldenmütigen Mutter! Ihre Kinder musste sie weggeben, selbst den Säugling entwöhnen, um fremden Leuten sie zu übergeben! Nochmals nahm sie Gertrud zu sich, als sie in Marburg etwas Ruhe gefunden hatte. Allzu schwer war ihr die Trennung gerade vom Jüngsten. Brauchte das Kind nicht die Mutter am notwendigsten? Doch Gott der Herr rief diese große Seele zu seiner ausschließlichen Nachfolge auf steilster Bahn. In heißem Gebet ringt sie dem Himmel die Gnade selbstlosester Kinderliebe und höchster, entsagungsvollster Gottesliebe ab: „Ich habe sie Gott empfohlen; möge er mit ihnen tun, was ihm gefällt. Ich wähle Gott allein.“ So vermag die starke Frau auch das größte Opfer um Gottes willen zu bringen. Sie trägt ihren zweijährigen Liebling von Marburg nach dem fünf Stunden entfernten Altenberg, mit bloßen Füßen, um ihn dort den frommen Chorfrauen des heiligen Norbert zur Pflege und Erziehung zu bringen. Dem eigenen Herzen versagt Elisabeth den letzten Trost, Fremden aber, den ärmsten und abstoßendsten Kranken weiht sie um Christi willen ihre Dienste! Musste diese unerhörte Selbstverleugnung, diese nur vom Geist Christi eingegebene und von seiner Gnade getragene Großmut nicht auf das edle Kind der Heiligen, wenn es einmal fähig würde, solchen Seelenadel zu verstehen, den mächtigsten Eindruck machen, der das ganze Leben hindurch nimmermehr wird ausgelöscht werden können? Leistete nicht die Mutter mit diesem ihren Verzicht doch noch den wirksamsten Einfluss und die dauerndste Mitarbeit zur Erziehung und zur Heiligung ihrer jüngsten und begnadetsten Tochter? Durch eine Tat, die nur im Glauben erfassbar ist?
O ewige Weisheit Gottes, „die in ihren Auserwählten Wurzel schlägt“! „Seht, dass sie nicht allein für sich arbeitet, sondern für alle, die die Wahrheit suchen!“ Schon 1231 schied Elisabeth in wunderseligem Sterben aus dieser Welt. Das liebe Kind, die selige Gertrud, zählte vier Jahre, da sie nun doppelt zur Waise wurde. Noch hatte sie bisher das Fehlen der Mutter nicht empfunden, ihr schweres Opfer nicht mitkosten können. Nun aber strahlte der Mutter Segen und Fürbitte vom Himmel her über den Kindheitswegen ihrer Tochter und brachte das reiche Erbe ihres Beispiels und heiligen Lebens zur schönsten Entfaltung. Immer höher stieg ja der Stern der demütigen Thüringer Fürstin. Schon im Jahr 1235 wurde sie von der Kirche in die Zahl der Heiligen aufgenommen. Als dann ein Jahr darauf, am 1. Mai 1236, der heilige Leichnam Elisabeths, noch unversehrt und ohne Zeichen der Verwesung, unter dem Zustrom einer ganz ungeheuren Menge von Pilgern aus allen Ständen und Nationen, feierlich erhoben wurde und auf den Schultern der Bischöfe, Fürsten und des Kaisers Friedrich II. selbst aus der Gruft herausgetragen und dem gläubigen Volk zur Verehrung ausgestellt wurde, da durchhallte grenzenloser Jubel und wogende Begeisterung das kleine Marburg und die weiten Lande, da zerschmolz aber auch das Herz der neunjährigen, allem Hohen erschlossenen Tochter der Heiligen in seliger Wonne und froher Dankbarkeit gegen Gottes wunderbare Anordnung und liebreiche Ermahnungen. Denn dass Getrud, St. Elisabeths Schmerzenskindlein, am großen Ehrentag der Mutter nicht fehlen durfte, ist nicht in Zweifel zu ziehen. Sagen uns ja auch überdies die Geschichtsschreiber, es sei das ganze thüringische Haus und auch Elisabeths Kinder anwesend gewesen. Graf Montalembert erzählt im großen „Leben Elisabeths“, Kaiser Friedrich habe während des Hochamtes, bei der Opferung, das Haupt der lieben Heiligen mit einer goldenen Krone geschmückt. Dann geleitete der Kaiser den jungen Landgrafen Hermann, den Sohn Elisabeths, zum Opfer, die Kaiserin aber führte die Prinzessinnen Sophie und Gertrud. Einzigartige Festfeier – die Erde wird noch keine zweite gleiche geschaut haben! Die leiblichen Kinder dürfen ihrer Mutter als kirchlich anerkannten Heiligen huldigen! Was Wunder, wenn die Erinnerungen an das hohe Ereignis unaustilgbar sich dem Herzen des glücklichen Kindes einprägte, und wenn, wie die Legende wissen will, St. Elisabeth gar oft, hold lächelnd und huldreich segnend, in Altenbergs stillen Räumen erschienen sei!
Das Prämonstratenserinnenkloster Altenberg (auch Altenburg) bei Wetzlar im Lahntal war damals noch klein und arm; aber ein frommer Geist und ein frischer Zug edlen Tugendstrebens beherrschte seine Insassen. Eine treffliche Oberin, Christine von Biel, waltete im Haus, ein gottgefälliges Vorbild, das schlichte suchende Seelen unwillkürlich mit sich fort zog. Für das Kind der Heiligen und für die Jüngerin der Heiligkeit war das eine weitere und kaum geringere Aufmerksamkeit Gottes in seiner wunderreichen Gnadenführung. Die anziehenden Lehren und noch mehr das gottinnige Leben der heiligmäßigen Meisterin ließen in der weichen Seele Gertrudens die Sehnsucht und Liebe zum Ordensstand immer mehr erstarken. Sie wird nicht mehr als fünfzehn Jahre gezählt haben, als man, ihren Wünschen und Bitten willfahrend, ihr das weiße Kleid der Töchter des heiligen Norbert reichte.
Mit jugendlichem Eifer und größter Wertschätzung ihres Berufes überließ sich die selige Gertrud den frommen Übungen der Ordensregel und der erprobten Leitung ihrer Oberen, um sicheren Schrittes in der Wissenschaft der Heiligen voranzuschreiten. In Stille und Verborgenheit, das demutsvolle Beispiel ihrer heiligen Mutter vor Augen, wollte sie in Werken heiliger Gottes- und Nächstenliebe sich erschöpfen, um den hohen Preis zu gewinnen, den der Herr seinen getreuen Nachfolgern verheißen hat. Aber, während sich die junge Ordensfrau bescheiden als Anfängerin im geistlichen Leben und als letzte Schwester fühlte, wurde sie schon, obgleich erst einundzwanzig Jahre alt, durch das Vertrauen ihrer Mitschwestern und den Wunsch ihrer geistlichen Oberen zur Leitung des Stiftes Altenberg berufen. Mochte hierfür ihre hohe Abkunft als Tochter eines Fürsten und Enkelin eines Königs bestimmenden Einfluss geübt haben, so durfte sie doch auch unzweifelhaft durch ihre gediegene Frömmigkeit, ihr ernstes, wirksames Ringen nach Heiligung, wie nicht minder durch ihre Verständigkeit und ihr Achtung gebietendes Wesen für das Amt der Äbtissin würdig erscheinen. Das hat eine fast fünfzigjährige vorzügliche Leitung der Klostergemeinde von Getruds Hand bestens erwiesen.
Das bescheidene Stift Altenberg wurde nach außen und innen ausgebaut und gehoben. Eine neue ansehnliche Kirche im gotischen Stil erstand und zeugt heute noch von dem hohen Sinn der seligen Äbtissin Gertrud für Förderung der Ehre Gottes und der Religion. Zum Wohl des Nächsten erbaute sie beim Kloster eine Herberge und ein Siechenhaus, wo die würdige Tochter der Armenmutter Elisabeth selbst die Fremden bediente und sich die Pflege der Armen und Kranken angelegen sein ließ. Diese „Siechenhäuser“ waren damals die einzige Zufluchtsstätte, wo die verlassensten, nicht selten mit ansteckenden Krankheiten wie Aussatz und Blattern befallenen Kranken liebe volle Aufnahme um Gottes willen und gute Auswartung nach dem Stand und der Übung der damals noch wenig entwickelten Heil- und Pflegekunde fanden. Auch die Herbergen oder Hospitale, Xenodochien, die später gerne den schönen Namen „Gottes-Gasthaus“ (Hôtel-Dieu) oder „Gasthaus der heiligen Elisabeth“ oder eines anderen Heiligen führten, nahmen nicht allein arme, obdachlose Fremde und Pilger auf, sondern alle kranken, hilflosen und gebrechlichen Leute, die in den Familien keine Pflege und passende Unterkunft hatten. Es waren das eben die Krankenhäuser, die „Spitäler“ jener Zeit, die „Fürsorgeanstalten“, die für eine weite Umgebung Stätten des Segens und der Caritas wurden. – Die Selige übte auch wohltätigen Einfluss nach außen aus durch die ihr eigene Gabe, Frieden unter Entzweiten zu stiften.
Am Förderlichsten für das Blühen des Klosters war das Wirken Gertrudens als Meisterin und Führerin der jungen Schwestern auf dem mühevollen Weg der Vollkommenheit. Viele Jungfrauen, besonders vornehmen Geschlechts, traten bei den Prämonstratenser-Chorfrauen ein und unterstellten sich willig und vertrauensvoll ihrer klugen Leitung. Als Grundsatz sprach sie oft aus: „Je höher wir in unserem Stand sind, desto mehr müssen wir uns verdemütigen.“
Was die Selige lehrte, das übte sie selbst; sie bestrebte sich, als Vorsteherin auch allen beispielgebend voranzuschreiten. Das Kirchengebet, das man später an Getrudens Festtag betete, rühmt ihre Reinheit und Liebe. Die Reinheit und Jungfräulichkeit war ihr ein kostbarer Schatz, den sie durch Wachsamkeit und große Strenge gegen ihren Leib hütete. Während der Fastenzeit schlief sie auf Stroh, in der Karwoche auf bloßem Boden. Die niedrigsten Dienstleistungen und Verrichtungen im Haus waren ihr nicht lästig.
In einem reinen, demütigen Herzen ruht und gedeiht die lebendige Gottesliebe. Gertrud, die keusche Magd des Herrn, trug eine ganz innige Liebe zum göttlichen Heiland im heiligsten Sakrament. Lebt sie ja in einer Zeit, wo die Verherrlichung und Dankbarkeit gegen das hochheilige Sakrament und die kirchliche Entwicklung seines Kultes großen Aufschwung und Fortschritt erfuhr. Bei dem lebhaften Verkehr, den die Kreuzzüge unter den Ländern und Nationen hervorriefen, blieben den gebildeten und frommgesinnten Chorfrauen von Altenberg die Visionen und Anregungen der Augustinerin Juliana von Lüttich (+ 1258) nicht unbekannt. Auf deren Veranlassung hin hatte Bischof Robert von Lüttich im Jahr 1246 zum ersten Mal das Fronleichnamsfest begehen lassen. Der Dominikaner Kardinal Hugo von S. Caro führte es als päpstlicher Gesandter, 1253, in ganz Westdeutschland ein. Damals, 1260, hatte Gott auch einen der gelehrtesten und heiligsten Männer, den heiligen Thomas von Aquin, berufen, das wunderbare Geheimnis auf einer gediegenen wissenschaftlichen Grundlage im christlichen Glauben zu begründen und durch begeisterte Hymnen und Gebetstexte für Messe und Brevier zu verherrlichen. Im Jahr 1264 schrieb sodann Papst Urban IV. die Feier des Fronleichnamsfestes am Donnerstag nach der Pfingstoktav für die ganze Kirche vor. Das haben die selige Äbtissin und der Frauenkonvent von Stuft Altenberg mit freudiger Heilsbegeisterung vernommen. Aller Herzen und Lippen, aller Gedanken und Hände erhoben sich, in heiligem Wetteifer zur Verherrlichung des eucharistischen Heilandes mitzuhelfen. Der feierliche Triumphzug des Allerheiligsten durch die Straßen von Dorf und Stadt, wie wir ihn so festlich und frohgestimmt zu halten pflegen als unerlässlichen Bestandteil unserer Festesfreude, war damals noch nicht üblich. Erst später wurde die feierliche Prozession mit dem Allerheiligsten gestattet und schließlich, 1450, verordnet. Derselbe Papst Urban IV. hatte auch von neuem einen Aufruf zum Kreuzzug ergehen lassen. Auch diese Einladung verhallte nicht ungehört bei St. Norberts Töchtern, am allerwenigstens bei der hochherzigen Tochter des Kreuzfahrers, Gertrud von Thüringen. Die Liebe zum gekreuzigten Heiland vermochte sie, sich in die Liste der Kreuzfahrer eintragen zu lassen und durch Gebet, Bußwerke und Geldopfer mitzuwirken an der Wiedergewinnung des Heiligen Landes.
Nach einem an Verdiensten reichen, heiligen Leben ging die Äbtissin Gertrud, schon hoch betagt, am 13. August 1297 zur ewigen Ruhe ein. Das dankbare Volk begann bald sie zu verehren und einen duftigen Schleier lieblicher Legenden um ihre ehrwürdige Gestalt zu weben.
Kinder Gottes sind wir und Kinder der Heiligen! Darum überhäuft uns der liebe Gott das ganze Leben hindurch mit zahllosen Aufmerksamkeiten. Wir müssen sie nur sehen und dankbar anerkennen. „Suchst du Gott den Herrn mit einfältigem und getreuem Herzen und verlangst du nach seinem Dienst, so erhebe dein Herz durch fromme Betrachtung der Liebe des gütigen Herzens Christi. Lege dorthinein all deine Hoffnung, all dein Verlangen und all deine Zuversicht. Dort wirst du Ruhe finden und Sicherheit deiner guten Werke. Nirgendwo sind sie besser aufbewahrt als im Herzen Christi. Welch reiche Schatzkammer, welch heiliger Gnadenschrein ist doch gegenwärtig im heiligen Sakrament!“ (Aus einer mittelalterlichen Handschrift)