Es war da einmal eine Frühlingswiese, eine ganz gewöhnliche Wiese, und wenn gewöhnliche Menschen über sie hinschritten, so sahen sie nichts als Wiese. Eines Tages aber kam mit leichtem Schritt ein Dichter daher und entdeckte mit seinen klaren Dichteraugen auf der gewöhnlichen Wiese Wunder an Wunder, tausend und noch viel mehr. Ihm waren jeder Grashalm und jede Frühlingsblume wie eine herrliche Offenbarung der Allmacht und Weisheit und Güte Gottes. Am längsten jedoch hing des Dichters Blick an den blauen Glockenblumen, und mit den hellhörigen Dichterohren vernahm er im leichten Wind das Läuten der Blüten und hörte deutlich heraus, dass es ein Lobpreis Gottes war, der von ihnen ausging und die Luft erfüllte.
Erst am späten Abend kehrte der Dichter mit seligem Glück im Herzen heim und sann unterwegs darüber nach, ob es wohl möglich sei, ein Gerät herzustellen, das die schwerhörigen Menschen in ähnlicher Weise zum Gotteslob auffordern könne, wie ihn dazu die Blüten auf der Frühlingswiese bewogen hatten. Lange grübelte er nach, und schließlich sah er vor seinem geistigen Auge die erste Glocke, die ganz nach dem Vorbild der Glockenblume gestaltet war. Das war die Geburtsstunde aller späteren Glocken, die durch ihre herrlichen Klänge die Herzen der Menschen mit Freude und Glück erfüllen. Jener Dichter aber, der die Glocke ersann, war nach der Legende der heilige Paulinus, der gleiche, dessen Fest heute gefeiert wird.
Des heiligen Paulinus Weg zur Heiligkeit ist von eigener Art. Um das Jahr 353 wurde er im heutigen Südfrankreich als Sohn eines römischen Statthalters in Reichtum und Glanz geboren. Die Eltern waren Christen, aber von einem christlichen Leben kann bei ihnen keine Rede sein. Der Umstand, dass sie den Sohn nicht einmal taufen ließen, sagt genug. Auf die religiöse Erziehung des Kindes legten sie nicht das geringste Gewicht. Umso mehr aber trachteten sie danach, dem Sprössling die Wege zu hohen Ämtern zu ebnen. In diesem Bestreben konnten sie dann auch einen vollen Erfolg verzeichnen, denn Paulinus lernte leicht und gut, war der Liebling der Lehrer mit fünfundzwanzig Jahren kaiserlicher Statthalter in Italien. Er, der von Haus aus schon Millionär war, heiratete sich mit einem steinreichen Mädchen noch einige Millionen hinzu, und übers Jahr machte ein Junge, den ihm die Gattin schenkte, das irdische Glück voll.
Bald jedoch sollte auch Paulinus die Erfahrung machen, dass das irdische Glück keinen festen Bestand hat. Der Tod riss ihm den dreijährigen Sohn aus den Armen, und diese Stunde tiefster Niedergeschlagenheit benutzte die Gnade, sich dem Weltmenschen Paulinus zu nähern, um aus ihm mit der Zeit einen Heiligen zu bilden. Endlich empfing der Heide die Taufe und versenkte sich ganz in Gott. Nach schwerem innerem Kampf trennte er sich von den Millionen, die er den Armen schenkte, um Gott besser dienen zu können, und verließ in gegenseitigem Einvernehmen auch die Gattin. Zu Nola in Italien erbaute er sich eine Einsiedelei. Einige gleichgesinnte Freunde scharten sich um ihn, und in Gebet und heiligem Leben verstrichen auf diese Weise fünfzehn Jahre. Nie zuvor war Paulinus bei allem Reichtum glücklicher gewesen, als er es in dieser Zeit war. Auch der Dichter, der lange in ihm geschlummert hatte, wurde geweckt, und es floss ihm das Gotteslob in heiligen und herrlichen Liedern begeistert vom Mund. Damals ist er auch über die Frühlingswiese gegangen und hat die Glocken erfunden, wofür ihm die Menschen noch heute dankbar sein müssen.
Die letzten zwanzig Lebensjahre amtete Paulinus als Bischof von Nola und starb im Alter von fast achtzig Jahren am 22. Juni 431, um nach den Worten des Gebetes der Kirche für das, was er auf Erden um Gottes willen verlassen hatte, das Hundertfache und das ewige Leben zu erhalten.