Am 18. Juni 1922 wurden im Beisein des Bischofs und Weihbischofs von Augsburg in der Kapuzinerkirche zu Kempten im Allgäu die irdischen Überreste des ehrwürdigen Kapuzinerbruders Georg feierlich beigesetzt. Die Steinplatte, die die neue Ruhestätte des Dieners Gottes deckt, besagt uns: „Hier ruht im Frieden Christi der ehrwürdige Bruder Georg von Pfronten, gestorben 1762 in Frascati bei Rom im Ruf der Heiligkeit, hierher übertragen 1922.“ Nach zweihundert Jahren ist Bruder Jörg, der wackere Schwabe, wieder zu seinen Landsleuten zurückgekehrt. Benedikt XV. (+ 22. Januar 1922) ist es noch gewesen, der auf Bitten der bayerischen Kapuziner die Erlaubnis gegeben hat, dass die Reliquien des ehrwürdigen Bruders, der in der „Ewigen Stadt“ sich das Bürgerrecht der himmlischen Stadt Gottes verdiente, seiner irdischen Heimat wieder zurückgegeben wurden.
Zu Kreuzegg in der Pfarrei Pfronten betrat Andreas, dem unter diesem Namen in der Taufe das Leben der Gnade zuteilwurde, seine irdische Pilgerbahn. Seine Eltern, Georg Erhart und Anna Holl, einfache, fromme Bäckers- und Bauersleute, erzogen ihn in der Furcht des Herrn. Besonders war die Mutter bemüht ihren Kindern die Unschuld zu schützen und pflanzte ihnen tiefe Frömmigkeit, Andacht zur lieben Mutter Gottes und zum heiligen Schutzengel ein. Zwei Söhne wählten denn auch den Ordensstand zu ihrer Heiligung. Der jüngere, Joachim, wurde Laienbruder der Gesellschaft Jesu. Andreas ging gerne in die Kirche und hatte seine Freude daran, dem Priester am Altar dienen zu dürfen. Im Religionsunterricht überragte er alle Mitschüler durch seine Aufmerksamkeit und Kenntnisse.
Andreas war erst zwölf Jahre, als sein Vater aufs Sterbebett kam. Kein Priester konnte dem Sterbenden in der letzten Stunde beistehen. Während nun die Erwachsenen ratlos und weinend am Bett standen, trat Andreas gefasst hinzu, betete dem Vater Reue und Leid vor, erweckte mit ihm die Akte des Glaubens, des Vertrauens und der Ergebung in Gottes Willen. Alle erstaunten über den entschlossenen Knaben, der ohne Tränen zu vergießen nur darauf bedacht war, dass sein lieber Vater eines guten Todes sterbe. Als dann bald darauf ein anderer Mann in Kreuzegg zum Sterben kam, holte man den kleinen Andreas, weil er so gut den Kranken zusprechen könne. – Unter einem wenig religiös gesinnten Stiefvater musste Andreas viel Hartes erdulden. Im Jahr 1715 kam er, um das Bäckerhandwerk zu erlernen, zum „Kirchenbäcker“ nach Immenstadt, wo er dann 1717 mit Auszeichnung die Gesellenprüfung bestand.
Weil aber unsere jungen Handwerksgesellen von jeher gerne auf die Wanderschaft gingen, um zu sehen und zu lernen, wie man in anderen Gegenden und Ländern das Handwerk betreibe und um sich auch eine bessere Allgemeinbildung zu verschaffen, so griff auch unser Andreas Erhart zum Wanderstab und richtete seinen Blick nach dem sonnigen Italien und natürlich auch nach Rom, 1718. Weil denn aber der deutsche Handwerksbeflissene auch allezeit einen frommen Sinn sich bewahrt hatte, so war es nicht einzig die Ausübung seines Gewerbes, was ihn voll in Anspruch nahm, ganz andere Geheimnisse gingen ihm auf. Das Rom der Päpste mit seinen kirchlichen Feiern und mannigfachen kirchlichen Einrichtungen und Begebnissen, die zahlreichen Heiligen der ewigen Stadt mit ihren Heiligtümern, die vielen Märtyrer im unterirdischen Rom, das vielgestaltige Ordenswesen mit seinen bunten Farben und Formen, die alle nur dem einen Hauptziel der Vervollkommnung der Seele dienen: das schlug unseren Braven, hochgemuten Jüngling aus dem Schwabenland in den Bann. Was schon länger unausgesprochen im Herzen lag, nach Höherem zu streben, zu lernen, wie die Seele für Gott im Glutofen der Liebe und Entsagung gleich schmackhaftem Brot wohlgefällig werden könne, das reifte unter der warmen Sonne kirchlichen Lebens und Geistes zur Vollendung. Gottes Gnade führte den Bäckergesellen ins Kapuzinerkloster.
Im Orden, dessen Kleid der neue Franziskusjünger in Palanzana bei Viterbo am 4. November 1724 erhielt, ist es Brauch, die Mitglieder nach ihrem Herkunftsort zu benennen, und weil denn bei den Italienern Kreuzegg und Pfronten einen unbekannten, das alte Augusta der Vindelicier, die schwäbische Hauptstadt, einen gar wohlbekannten Klang hatte, so nannten sie den Neuling Georg von Augsburg. Bei seinen deutschen Landsleuten aber, die ihn hernach in Rom gerne aufsuchten, hieß er nur der „Frater Jörg“. Diese konnten auch bei ihrer Rückkehr in die Heimat recht erbauliche Nachrichten vom frommen Bruder Jörg berichten.
Das klösterliche Leben des Bruders war auch wirklich ein exemplarisches, ein außerordentliches. Frater Georg war ein Mann der Buße und des Gebetes. Obschon er die Taufunschuld bis zum Grab bewahrte, führte er doch ein so strenges Leben, als ob er für die schwerste Schuld büßen müsste. Er aß nur einmal am Tag, gewöhnlich mittags; wenn er aber zum Sammeln unterwegs war, erst abends. Dabei bestand seine ganze Mahlzeit in Suppe mit etwas Brot darin. Dies kärgliche Gericht machte er noch unschmackhaft, indem er Asche hineinstreute. Wurde im heißen Sommer der Durst einmal gar zu arg, dann erlaubte er sich in der Küche eine Tasse Spülwasser. Dem Bruder, der ihn daraufhin ansprach, sagte Georg: „Mir tut das gut.“ Sein täglicher Schlaf währte nur zweieinhalb Stunden. Aber selbst das war keine Annehmlichkeit auf den harten Brettern, über die nur eine Decke gebreitet war. Wenn seine Mitbrüder sich zum mitternächtlichen Gebet versammelten, fanden sie den Bruder Jörg schon im Gebet. Chorgebet und Betrachtung dauerten zwei Stunden. Während hierauf die Konventbrüder ihre Zellen aufsuchten zu nochmaliger kurzer Ruhe, verblieb der Diener Gottes den Rest der Nacht vor dem Allerheiligsten. Wenn er sich da allein glaubte, sandte er laut seufzend die feurigsten Liebesrufe zu seinem geliebten Heiland im Tabernakel. Welch eine Seligkeit war es ihm dann, vom Morgengrauen an bei möglichst vielen Heiligen Messen dienen zu können, und wenn es auch zehn bis zwölf wurden. Das tat er mit solcher Andacht und Sammlung, dass die anwesenden Gläubigen tief ergriffen wurden. Wenn er die heilige Kommunion empfing, wurde vielfach beobachtet, dass sein Antlitz aufleuchtete wie das eines himmlischen Geistes. Wie oft hat der ehrwürdige Bruder Georg in solch langen, gottgesegneten Andachtsstunden auch für sein deutsches Vaterland gebetet und die Heilige Messe in der Meinung aufgeopfert, dass Deutschland wieder eins werde im katholischen Glauben. Seinem tiefen Schmerz über die Glaubenszerrissenheit im deutschen Heimatland hat er auch gerne am Grab der Apostelfürsten, das er als Sammelbruder täglich besuchte, innigen Ausdruck gegeben.
Der demütige Bruder Georg, das treue Nachbild des großen Heiligen von Assisi, hatte von Gott eine tiefe Einsicht in die religiösen Wahrheiten und in die Geheimnisse des Glaubens erhalten. Sein Landsmann Bruder Franz von Kronberg bezeugte im Seiligsprechungsprozess, wie ihm auf einer Reise Bruder Georg Stücke aus dem Evangelium, die Heilige Messe samt den priesterlichen Funktionen und vieles andere mit Klarheit und hinreißender Salbung erklärte. Bruder Franz folgte schweigend seinen Worten und dachte bei sich: „Wie kann ein Mensch, der früher Bäckergeselle war, solche erhabene Kenntnisse über die Glaubenswahrheiten haben?“ Nach einigem Nachdenken wiederholte er ganz still für sich: „Das ist das Werk des Heiligen Geistes.“ Da wandte sich der Diener Gottes plötzlich um und mahnte ihn: „Franz, da komm her und denke nicht mehr über die Dinge nach, die du im Kopf hast.“ Und mit Glanz in den Augen und glühendem Antlitz fügte er hinzu: „Franz, alle deine Kräfte, die du hast, nützen dir nichts. Habe Glauben und Vertrauen auf Gott, damit du in all deinem Tun Gott lobpreisen mögest.“ Wohl besaß Bruder Georg große natürliche Talente und hatte sich auch durch fleißiges Lesen religiöser Bücher reiche Kenntnisse erworben. Aber das Urteil derer, die seinen Geist prüften, ging dahin, dass er auch die „eingegossene Wissenschaft“ besessen und Jahre lang in der mystischen Vereinigung mit Gott gelebt habe.
„Die Frömmigkeit ist zu allem nütze.“ Es ist darum nicht zu verwundern, dass der fromme Ordensmann sich auch in den verschiedensten Beschäftigungen bewährte, die ihm von seinen Oberen im Kloster übertragen wurden. So hatte er einmal einen kranken Pater zu bedienen, dessen raue Sinnesart noch durch die Schmerzen der Krankheit sehr überreizt worden war. Die Bedienung dieses Kranken wurde auf die Dauer für Bruder Georg zu einer schweren Geduldprobe, in der er sich aber als ein Mann von unerschöpflicher, heroischer Sanftmut bewies.
Das Licht eines erbauenden Lebens und heiligmäßigen Beispiels, das seither hinter den Mauern seines Klosters leuchtete, sollte bald seinen Glanz auf weitere Kreise ergießen. Bruder Georg wurde von den Ordensoberen ins Kloster der Unbefleckten Empfängnis nach Rom berufen zum Amt der Almosensammlung. Diese nach außen bedeutungslose und wenig angenehme Beschäftigung wusste seine edle Liebe zu den Mitmenschen mit hohem sittlichem Inhalt zu erfüllen. Empfing er materielles Gut, so spendete er reichlich geistliche Gaben entgegen. Für viele wurde er ein gern gesuchter Lehrer, Vater und Berater. Der heilige Felix von Cantalizio, der dort zweihundert Jahre vorher so segensreich gewirkt hat, schien in Bruder Jörg neu erstanden zu sein. Wie jener wurde auch er der Liebling der Römer. Es war ein gar anziehendes Bild: Bruder Jörg geht mit seinem Bettelsack auf der Schulter, den Gabelstecken, den er aus der deutschen Heimat mitgebracht hat, in der Hand durch die Straßen der ewigen Stadt, „Frau Giorgio! Frau Giorgio!“ ruft eine frohe Kinderschar, die sich schnell um den lieblich lächelnden Bruder drängt. Er gibt jedem der Kleinen ein Heiligenbild, „un Santo“, vergisst nicht einige Worte der Mahnung hinzuzufügen oder unterrichtet sie etwas länger mit gutem Geschick in den Religionswahrheiten – und die kleine Schar eilt beglückt und frohlockend wieder davon.
Großes Vertrauen genoss Georg auch bei den Erwachsenen. Hohe und Niedere, Reiche und Arme suchten und fanden Trost und Rat bei ihm. Oft rief man ihn zu den Kranken, dass er über sie bete, ihnen entweder die Gesundheit oder ein seliges Ende erflehe. Viele haben wirklich durch sein Gebet die Gesundheit wieder erlangt, so dass im Volk der Glaube allgemein wurde, Bruder Jörg besitze die Gabe der Wunder im hohen Grad. Er besuchte eifrig die Krankenhäuser und Gefängnisse, half den Bedrängten, wo er konnte, und redete den Sündern zu, sich zu bekehren. Sein strenges Ordensleben verlieh seiner seeleneifrigen Tätigkeit den Gnadensegen von oben.
Besonders gern suchten den frommen Bruder die deutschen Handwerksburschen auf, um die er sich liebevoll annahm und denen er durch hohe Gönner reichliche Unterstützung zukommen ließ. Zu diesen Gönnern zählten Prälaten, Kardinäle, Fürsten und vor allem Papst Klemens XIII. Dieser, von den burbonischen Höfen damals sehr bedrängt, eröffnete dem ungelehrten, aber gotterleuchteten Klosterbruder die Kümmernisse seines Herzens und erbat sich von ihm Gebet und Rat. Im Sommer des Jahres 1762 lud der Fürst Plumbini den Bruder Jörg ein, die heißen Tage bei ihm in Fascati, unweit von Rom zu verbringen. Mit Erlaubnis seiner Obern durfte er der Einladung folgen. Er sah Rom nicht wieder. Am 7. Oktober 1762 starb er, 65 Jahre alt, in der Villa Plumbini eines heiligen Todes. Die Leiche wurde unter außerordentlicher Beteiligung des Volkes in die Kapuzinerkirche daselbst übertragen, wo sie unter der ewigen Lampe im Presbyterium ihre Ruhestätte fand. Eine marmorne Platte deckte das Grab, das viel von Betenden und Hilfsbedürftigen aller Art umlagert wurde.
Der ehrwürdige Diener Gottes erwies sich eben auch in seiner Verklärung als liebreicher Helfer der Bedrängten. So kam es, dass bald der ganze Lebenswandel des gottseligen Bruders einer eingehenden Untersuchung unterstellt wurde, deren Ergebnis das Urteil allgemein bestätigte, dass er die göttlichen und sittlichen Tugenden in hohem Maß besessen und in heroischer Weise geübt habe. Um die Mittel zur Fortführung des Seligsprechungsprozesses beizuschaffen, bemühte sich in Deutschland besonders der Kurfürst und Bischof von Augsburg Klemens Wenzeslaus. Von Fürsten und hochgestellten Persönlichkeiten liefen Bittgesuche um die Seligsprechung ein. Alle Vorbedingungen wären gegeben gewesen. Allein die vom Kurfürsten 1783 angeordnete Sammlung zur Gewinnung der Mittel fand in jener bösen Zeit wenig Anklang und so ruhte die Sache. Erst in unserer Zeit wurde sie wieder in Gang gebracht, nachdem schon Papst Pius IX. 1852 den Bruder Georg von Augsburg für „ehrwürdig“ erklärt hatte. Möge es Gott gefallen, der angeregten Verhandlung einen günstigen Fortgang zu geben, dass wir bald in dem schlichten Kapuzinerbruder aus dem bayerischen Allgäu einen neuen Seligen verehren dürfen!