Heiliger Simeon Stylites der Ältere, syrischer Asket, der erste und berühmteste Stylit, + 25.7.459 (oder 2.9.) – Fest: 5. Januar

       

Aus: Lexikon für Theologie und Kirche:

 

„* im späten 4. Jahrhundert (389/390?) in Sis, an der Grenze zwischen Syrien und Kilikien, + 25.7. (oder 2.9.) 459. Als Sohn christlicher, begüterter Landleute hütete er die Herden der Eltern, wählte dann, durch die Bergpredigt mit den Seligpreisungen bewogen, den Mönchsstand, zunächst bei Asketen der Nachbarschaft, nach 2 Jahren im Eusebona-Kloster bei Tell´eda, begab sich 412 nach Telneschin. Dort ließ er sich für die Dauer der Fastenzeit einmauern, so im Ganzen 28-mal, ohne die geringste Nahrung. Drei Jahre später ließ er sich an einen benachbarten Felsen anschmieden. Seine Heiligkeit zog viel Volk an; es wollte ihn berühren und Stückchen seines ledernen Gewandes mitnehmen. Um dem zu entgehen, bezog er um 422 eine Säule, zuerst nur 3m, zuletzt 20 m in der Höhe, jedem Wetter ausgesetzt; er wurde so der Begründer des Stylitentums. Auf ihr stand er die letzten 30 Jahre aufrecht, nur zum Gebet sich verneigend; an hohen Festtagen hielt er während der ganzen Nacht die Arme zum Himmel erhoben; 2 mal des Tages predigte er den Umstehenden und befasste sich anschließend mit den Nöten und Sorgen der einzelnen, in rührender Demut und Liebenswürdigkeit sich jedem widmend. Ein „Meer von Menschen“ strömte von überall her zu dem weltberühmten Styliten, alle kehrten mit reichem seelischen Nutzen zurück. Die Araber kamen zu Tausenden, um ihren Götzen abzuschwören. Auch Große der Welt und der Kirche holten seinen Rat ein. – Seine Gebeine wurden in Antiochien bestattet. Um die hochverehrte Säule erhob sich bereits Ende des 5. Jahrhunderts eine prächtige Kathedrale, Kalat Siman genannt (Simeonskastell oder -felsen). Fest 5. Januar im Abendland, 1. September in den Ostkirchen. Konnte auch Simeon wahrscheinlich nicht schreiben, dürften doch einige der unter seinem Namen gehenden Schriften echt sein.“

 

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Aus: Leben der Väter und Märtyrer, von Alban Butler, 1. Band, Mainz 1823, ab S. 100:

 

„Der heil. Simeon, der Stylite.

 

Jahr 459.

 

Wegen seines außerordentlichen Lebens wurde der heil Simeon, nicht nur in dem ganzen römischen Reich, sondern selbst bei mehreren ungebildeten und ungläubigen Nationen, als eine Wundererscheinung angesehen. Die Perser, Meder, Araber, Äthiopier, Iberier und Scythen hegten die tiefste Ehrfurcht gegen ihn. Man sah Perserkönige, die es sich zur größten Ehre rechneten, seines Segens teilhaftig zu werden, während die römischen Kaiser ihn um seine Fürbitte bei Gott anflehten, und in den wichtigsten Angelegenheiten um Rat fragten. Allein wir dürfen eine hier notwendige Bemerkung nicht außer Acht lassen. – Seine wundervolle Lebensweise, die so sehr geeignet war, unserem Heiligen die Verehrung aller Menschen zu erwerben, wird für uns mehr ein Gegenstand der Bewunderung als Nachahmung, ohne jedoch aufzuhören, unserer Erbauung und unserem Fortschreiten im geistlichen Leben förderlich zu sein. Und wie wäre es wohl möglich, ernstlich über das mächtige Streben nach Vollkommenheit von Seiten dieses heiligen Mannes nachzudenken, ohne selbst unsere Feigheit zu verdammen, und von Scham wegen unserer Lauigkeit im Dienst Gottes erfüllt zu werden!

 

Der h. Simeon war der Sohn eines armen Schäfers, geboren zu Sisan, einer kleinen Burg auf den Grenzen von Cilizien und Syrien. Seine erste Beschäftigung war die Herden zu weiden. Da er aber als Kind von dreizehn Jahren in der Kirche die Stelle des Evangeliums vorlesen hörte, wo von den acht Seligkeiten geredet wird, war er besonders durch jene Worte: selig diejenigen, die das weinen; selig diejenigen, die eines reinen Herzens sind, mächtig ergriffen. Er wandte sich deshalb an einen verständigen Greis, um von ihm darüber völlige Aufklärung zu erhalten, und die Mittel zu erfahren, die ihm diese versprochene Glückseligkeit verschaffen könnten. Der Mann antworte ihm, diese Worte der Schrift bedeuteten nichts anderes, als dass Beten, Wachen, Fasten, Weinen, Erduldung der Schmach und Verfolgungen der Weg seien, der zur wahren Glückseligkeit führe. Er fügte noch bei, in der stillen Zurückgezogenheit sei es leichter als anderswo, diese guten Werke zu üben, und sich in der Tugend fester zu begründen.

 

Simeon ging, erfüllt von dem, was er soeben gehört hatte, beiseite, warf sich vor Gott nieder, und bat ihn sein Führer zu sein auf den Bahnen der Heiligkeit und Vollkommenheit. Einen Augenblick nachher überfiel ihn ein sanfter Schlummer, in dem er eine Erscheinung hatte, die er so zu erzählen pflegte: „Es schien mir, ich grabe Fundamente, und einer sage mir, ich solle noch tiefer hinunter graben. Als ich ausruhen wollte, befahl er mir unablässig fortzugraben, was zu vier wiederholten Malen geschah. Endlich sagte er mir, die Fundamente seien tief genug, und ich könne ohne Besorgnis ein so hohes und großes Gebäude, als ich wolle, aufführen.“ Die Vorhersagung wurde auch wirklich, bemerkte Theodoret, durch die Tat bewahrheitet, und nur die tiefste Demut, und die glühendste Liebe konnten das Gebäude tragen, das dieser bewunderungswürdige Mann, dessen Handlungen so weit über die Kräfte der Natur erhaben waren, aufführte.

 

Sobald Simeon erwachte, eilte er dem Tor eines nahen Klosters zu, das unter der Leitung des heil. Abtes Timotheus stand, wo er mehrere Tage ohne zu essen und zu trinken auf der Erde hingestreckt liegenblieb, und keine andere Gnade begehrte, als in der Eigenschaft eines Dieners, der zu den niedrigsten Verrichtungen des Hauses bestimmt sei, aufgenommen zu werden. Als er endlich unter die Zahl der zu Prüfenden aufgenommen worden war, fing er an, den Psalter auswendig zu lernen, was man zuerst von den Novizen forderte. Er konnte dieses göttliche Buch, in dem er so viele Nahrung für seine mächtig himmelanstrebende Seele fand, nicht mehr verlassen, unterzog sich, seiner zarten Jugend ungeachtet, den durch die Regeln vorgeschriebenen strengen Bußübungen, und hatte bald alle Brüder gewonnen, die vorzüglich seine Liebe und Demut bewunderten.

 

Nachdem er zwei Jahre in diesem Kloster zugebracht hatte, verließ er es, um sich in ein anderes zu begeben, wo man ein noch strengeres Leben führte, und dem der Abt Heliodor vorstand. Dieser Heliodor war ein ehrwürdiger Greis, der seit zweiundsechzig Jahren in der Einsamkeit lebte, und in einem unaussprechlich hohen Grad den Geist des Gebetes besaß. Seine Seele lebte nur in Gott, und war so der Welt abgestorben, dass er, nach Theodorets Erzählung, der ihn genau gekannt hatte, von allem, was um ihn vorging, sogar von den gemeinsten Dingen, nichts wusste. Unter einem solchen Lehrer machte Simeon in kurzer Zeit die schnellsten Fortschritte. Auch war er bald ein Muster des ganzen Hauses durch pünktliche Beobachtung der Regel. Sein Hunger nach Buße war unersättlich, und wo seine Brüder nur alle zwei Tage Speise nahmen, aß er in der Woche nur ein Mal. Auf gleiche Weise erhöhte er noch alle anderen Bußübungen des Klosters, so dass seine Vorsteher ihm Schranken setzen mussten. Das Ansehen, das die frommen Exzesse seines Eifers zähmte, war zu ehrwürdig, als dass er sich ihm nicht hätte gänzlich unterwerfen sollen. Er gehorchte daher, begehrte aber und erhielt die Freiheit, geheimen Abtötungen sich zu unterziehen. Gott allein kennt die Strenge, mit der er gegen sich selbst verfuhr, und durch die er seinen Leib in des Geistes Dienstbarkeit brachte. Eines Tages kam er auf den Gedanken, das Brunnenseil, das aus zusammengedrehten Palmblättern gebunden und folglich sehr rau war, könnte für ihn ein Werkzeug der Buße werden; er umgürtete sich sogleich damit die bloßen Lenden, und dies ohne Wissen des Vorstehers der Gemeinde. – Allein durch die Länge der Zeit schnitt das fest gebundene Seil in das Fleisch, und verursachte ein Geschwür, dessen übler Geruch endlich Simeons Geheimnis verriet. Drei Tage lang nässte man seine von eiterndem Blut festklebenden Kleider, ehe man sie ihm ausziehen konnte. Die Ärzte mussten sogar noch tiefe Einschnitte machen, um das Seil aus dem Fleisch zu ziehen, das dem Heiligen so große Schmerzen verursachte, dass er einige Zeit wie tot dalag. Sobald er aber wieder hergestellt war, entließ ihn der Abt, aus Furcht, eine solche Sonderbarkeit dürfte auf die notwendige Gleichheit der klösterlichen Zucht einen schädlichen Einfluss haben.

 

Der Diener Gottes zog sich daher in eine Einsiedelei, am Fuß des Berges Telanissa, zurück. Da fasste er den Entschluss, die ganze Fastenzeit ohne irgendeine Speise zuzubringen, um Jesus vollkommen in seinem vierzigtägigen Fasten nachzuahmen. Diesen erstaunlichen Entschluss eröffnete er seinem Gewissensrat, einem tugendhaften Priester, Bassus genannt, unter dessen Leitung zweihundert Mönche standen. Da dieser fürchtete, solcher Heldenmut möchte eher aus dem Trieb seines glühenden Eifers, als aus genauer Prüfung seiner Kräfte herrühren, ließ er ihm zehn Brote und ein Krug Wasser zurück, um der Natur, im Falle sie unterliegen sollte, aufzuhelfen. Nach Verlauf der vierzig Tage kam Bassus zurück, fand die Brote und das Wasser unberührt, sah aber Simeon, beinahe ohne Lebenszeichen, ausgestreckt auf der Erde liegen. Sogleich befeuchtete er dessen Lippen mit einem Schwamm, und erteilte ihm die heilige Eucharistie. Simeon stand, gestärkt durch diese himmlische Speise, auf und aß einige Lattichblätter. Auf diese Weise brachte er in der Folge alle Fasten zu. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, als Theodoret seinen Bericht niederschrieb. Von diesem Schriftsteller erfahren wir, wie er in dieser heiligen Zeit lebte. Im Anfang der Fasten betete er aufrechtstehend; wenn sein zu sehr geschwächter Körper sich nicht mehr halten konnte, betete er sitzend; endlich legte er sich auf die Erde nieder, wenn gänzliche Kraftlosigkeit ihm jede andere Stellung unmöglich machte. Auf einer Säule band er sich an einen Balken, um sich aufrecht zu erhalten; allein in der Folge bedurfte er dieser Stütze nicht mehr. Es ist wahrscheinlich, dass er in seinen letzten Lebensjahren von diesem strengen Fasten etwas nachließ. Es gibt Menschen, die in dieser Enthaltung von allen Speisen nichts Übernatürliches finden wollen, und sie einem starken Körperbau, dem allmähliche und stufenweise Angewöhnung zu Hilfe komme, zuschreiben.

 

Diesem sei nun, wie da wolle, unser Heiliger verließ seine Einsiedelei nach Verlauf von drei Jahren, und bestieg den Gipfel des Berges, um da seinen Aufenthalt zu wählen. Er verschloss sich, da zwischen ein von bloßen Steinen ohne Speiß errichtetes, dachloses Gemäuer, das ihn nicht gegen Regengüsse und brennende Sonnenhitze verwahren konnte. Und um dem Entschluss, den er gefasst hatte, an diesem Ort zu bleiben, unveränderlichen Bestand zu geben, ließ er eine große eiserne Kette machen, und ein Ende derselben an seinen Fuß, das andere an einen dicken Stein befestigen. Meletius, Chorbischof von Antiochia, der ihn in diesem Zustand sah, stellte ihm vor, es sei unnütz, seinen Leib anzuketten, weil der gute Wille, durch die Gnade unterstützt, genüge, ihn in diesem Gemäuer festzuhalten. Simeon ließ, ohne im Geringsten zu widersprechen, einen Schlosser rufen, der die Kette durchfeilte. Durch den Glanz seiner Tugenden wurde bald der Berg berühmt, und unzählige Menschen, sogar aus den entferntesten Ländern, strömten dahin zusammen. Die Heiden beeiferten sich, wie die Christen, des Heiligen Segen, der Heilkraft hatte, zu empfangen. Mehrere reisten dann erst vergnügt hinweg, nachdem ihnen vergönnt worden ist, ihn zu berühren.

 

Simeon ersann, um sich den Zerstreuungen, die ihn in seiner Einsamkeit störten, zu entreißen, eine Lebensweise, von der man bis dahin noch kein Beispiel gesehen hatte. Im Jahr 423 ließ er eine sechs Ellenbogen hohe Säule errichten, auf der er vier Jahre lang lebte. In der Folge ließ er eine andere zwölf Ellenbogen, und zuletzt eine dritte, zwei und zwanzig Ellenbogen hohe errichten. Dreizehn Jahre brachte er bald auf der einen, bald auf der anderen Säule zu. Die zweiundzwanzig letzten Jahre seines Lebens verlebte er auf einer vierten Säule, die vierzig Ellenbogen hoch war (Dadurch erhielt der Heilige den Beinamen, der Stylite – Säulensteher). Die Spitze dieser Säule, die mit einem Geländer umgeben war, hatte nur drei Fuß im Durchmesser, weshalb der Heilige weder liegen, noch sitzen konnte. Er lehnte sich, wenn er der Ruhe bedurfte, an das Geländer; öfter auch lehnte er sich in dem Gebet. In seinen glühenden Herzensergüssen sah man ihn öfters mehrere Stunden mit gegen Himmel gehobenen Augen in Gott versenkt. Zwei Mal des Tages hielt er an diejenigen, die ihn besuchten, Ermahnungen; dies war aber nur Männern gestattet, da die Frauen in den Umkreis seiner Säule nicht eingelassen wurden. Diesem Verbot musste sogar seine eigene Mutter, die gekommen war, ihn zu sehen, sich unterwerfen. Nachdem er aber ihren Tod erfahren hatte, betete er inbrünstig für das Heil ihrer Seele. Seine Reden betrafen gewöhnlich die Schwüre, die Beobachtung der Gerechtigkeitspflichten, das Laster des Wuchers, die Besuchung der Kirchen, und die Notwendigkeit, nicht nur für sich, sondern auch für alle Menschen im Allgemeinen zu beten. Jedes seiner Worte hatte eine unaussprechliche Salbung und eine unwiderstehliche Kraft. Er verfehlte auch selten bei der Überzeugung des Verstandes die Rührung des Herzens. Man konnte ihn nicht hören, ohne von Liebe zur Tugend und von Abscheu gegen das Laster erfüllt zu werden.

 

Eine so sonderbare Lebensweise konnte jedoch dem öffentlichen Tadel nicht entgehen. Eitelkeit, oder wenigstens Überspannung sollte, wie viele meinten, ihn dazu bewogen haben. Die Bischöfe und Äbte der Umgegend glaubten aber, sich zuerst von den inneren Gesinnungen des Heiligen überzeugen zu müssen, bevor sie über ihn aburteilen könnten. Sie kamen daher überein, jemanden an ihn zu senden mit dem Befehl, von der Säule herabzusteigen, und auf den gewöhnlichen Weg der anderen Diener Gottes zurückkehren. Kaum ward Simeon des Befehles kundig, als er sogleich, ohne die geringste Widerrede, sich anschickte hinabzusteigen. Der Abgeordnete begnügte sich aber, der empfangenen Weisungen gemäß, mit seinem Gehorsam, und sagte ihm: „Bleibe nur; dein bereitwilliger Gehorsam beweist die Reinheit der Beweggründe, aus denen du handelst: fahre fort dem Willen Gottes zu folgen, und treu deinem Beruf zu entsprechen.“

 

Simeon, mehr als jemals überzeugt, dass er auf der ihm von der Vorsehung gezeichneten Bahn wandle, beharrte auf seiner Lebensweise. Man fuhr fort, ihn zu den Stunden, in denen er sich mitteilte, zu besuchen, und die Kraft seiner Predigten, verbunden mit dem Glanz seiner Tugenden, bekehrten eine große Anzahl Perser, Armenier, Iberier, und das ganze Volk der Lazen, die aus Colchis, ihn zu hören, gekommen waren. Die Fürsten und Fürstinnen von Arabien pilgerten zu ihm, seinen Segen zu empfangen. Vararanes V., König der Perser, konnte ihm seine Verehrung nicht versagen, obgleich er ein erklärter Feind und Verfolger der Christen war. Die römischen Kaiser Theodosius der Junge und Leo fragten ihn oft um Rat, und empfahlen sich in seine Gebete. Der Kaiser Marcian verkleidete sich als Privatmann, um sich leichter das Vergnügen zu verschaffen, ihn zu sehen und zu hören. Auf seine Mahnungen schwor die Kaiserin Eudoxia einige Zeit vor ihrem Tod die Irrlehre des Eutyches ab.

 

So viele Ehrenbezeigungen, verbunden mit der Gabe der Wunder und der Weissagung, würden eine gewöhnliche Seele der leisesten, aber zugleich auch gefährlichsten Versuchung der Eitelkeit, der sie vielleicht auch unterlegen wäre, ausgesetzt haben. Allein Simeon war zu fest gegründet in der Demut, um auf sich die Ehren zu beziehen, die er von Seiten der Menschen empfing. Überzeugt, dass man die Zukunft vorhersagen und Wunder wirken könne, ohne deswegen ein Heiliger zu sein, sah er sich als den geringsten der Menschen und den größten der Sünder an. Seine Geduld war aber nicht minder bewunderungswürdig als seine Demut. Nebst dem, dass er mit Freude alle Leiden, Verspottungen und Schmähungen ertrug, hatte er es sich auch zum unumstößlichen Gesetz gemacht, nie davon zu reden. Lange Zeit verbarg er eine schauderhafte Wunde, die er am Fuß hatte, und als man sie entdeckte, wollte er nicht zugeben, dass man sie reinigte und verband, obgleich eine Menge Würmer herausfiel. Was hätten wir nicht noch zu sagen über seine Sanftmut und Liebe gegen alle, die ihn besuchten, über seine glühende Inbrunst für Gott, über seine gänzliche Lostrennung von allem Irdischen, über seinen Gebetseifer, und über alle anderen Tugenden, die er bis zur höchsten Stufe der Vollkommenheit brachte.

 

Es wird erzählt, dass ihm Domnus, Patriarch von Antiochia, der ihn besuchte, die heilige Kommunion auf der Säule erteilt habe; ohne Zweifel empfing er auch öfters von anderen Priestern dieses erhabene Sakrament. Endlich fühlte dieser bewunderungswürdige Büßer sein Ende herannahen. Er beugte sich nieder, um sein gewohntes Gebet zu verrichten, erhob sich aber nicht mehr, weil er sanft im Herrn entschlafen war. Erst nach drei Tagen bemerkte man, dass er tot sei. Es war, nach Cosmas, an einem Mittwoch, den 2. September 459, als dieser Diener Gottes in seinem neunundsechzigsten Lebensjahr in die bessere Welt hinüberging. Den folgenden Freitag brachte man seinen Leichnam nach Antiochia. Die Einwohner der ganzen Gegend und mehrere Bischöfe wohnten dem Leichenzug bei, und die Überzeugung, die man von der Heiligkeit des Verstorbenen hegte, wurde durch Wunder, die Gott bei dieser Gelegenheit wirkte, noch befestigt. Man beging seither sein Fest im ganzen Morgenland mit großer Feierlichkeit. (Majelli, römischer Prälat, erzählt in seiner Abhandlung über die Styliten, die Säule des heiligen Simeon sei oben mit einer Art Geländer umgeben gewesen, und beweist, dass nach dem heiligen Simeon bis zur Gründung des Sarazenischen und Türkischen Reiches, im Morgenland allzeit Styliten waren. Im Abendland konnte diese Lebensart wegen der rauen Witterung keine Nachahmer finden. Dennoch redet der heilige Gregor von Tours, in seinem 8. Buch, K. 15, von einem gewissen Vulfilaicus, der einige Zeit in der Nähe von Trier auf einer Säule lebte. Er war aus der Lombardei und ein Schüler des heiligen Abtes Aredius im Limousin. Er forderte das Volk der benachbarten Dorfschaften auf, dem Götzendienst zu entsagen, und die große Bildsäule der Ardennischen Diana, die seit der Regierung des Domitian verehrt wurde, niederzureißen. Sein Bischof befahl ihm, eine für diesen kalten Himmelsstrich zu harte Lebensart zu verlassen. Er gehorchte auf der Stelle, und zog sich in ein Kloster zurück. Es scheint, Vulfilaicus war der einzige Stylit des Abendlandes gewesen.)

 

Die außerordentlichen Wege, auf denen der heilige Simeon wandelte, zeugen von einem Mann, der in gänzlicher Lostrennung von den Geschöpfen Leben wollte, um sich einzig Gott anzuschließen. Nicht Liebe zum Sonderbaren hatte auch nur den geringsten Einfluss auf sein Betragen. Sein einziges Augenmerk war die Erfüllung des göttlichen Willens: daher diese Bereitwilligkeit seine Säule zu verlassen, sobald man ihm den Befehl seiner Obern bekannt machte. In seiner ungeheuchelten Demut sah er sich als einen Sträfling an, der gerechter Weise aus der menschlichen Gesellschaft verbannt, und dessen Leben ganz in Jesus verborgen sein sollte. Wehe demjenigen, der in der Absicht, groß vor den Augen der Welt zu erscheinen, nach der Tugend trachtete! Die christliche Vollkommenheit soll den Geist der Demut und die Liebe der Verachtung zur Grundlage haben. Wehe daher auch jenen Seelen, die durch einen verfeinerten Stolz in der Heiligkeit nur einen erhabenen und angesehenen Stand suchten! Man muss nach der Heiligkeit streben, weil uns Gott dazu beruft, und weil wir uns durch ein immer regeres Streben danach in seinen Augen angenehm und wohlgefällig machen. Nach diesen hohen Lehren richtete der heilige Simeon sein ganzes Betragen. Es ist wahr, er tat manches, was kein Gegenstand unserer Nachahmung sein könnte: allein können wir nicht, wie er, die Armut, Schmach, Kreuz und Leiden lieben? Ist es nicht auch für uns heilige Pflicht, Jesus Christus gleichförmig zu werden? Haben wir denn vergessen, dass diese Gleichförmigkeit mit unserm göttlichen Meister und unumgänglich notwendig ist, wenn wir des Verdienstes der Erlösung teilhaftig werden wollen? Hüten wir uns vor jenem geheimen Stolz, der unter eitlen Vorwänden uns verleiten wollte, glanzvolle Handlungen jenen vorzuziehen, deren Verdienst allein von Gott gekannt ist. Nie werden wir unserm Beruf entsprechen, wofern wir es nicht als eine der ersten und notwendigsten Pflichten ansehen, unser Kreuz auf uns zu nehmen und Jesus nachzufolgen. Ein, wenigstens dem Geiste nach, verborgenes Leben zu führen, unaufhörlich gegen unsere eigene Gebrechlichkeit misstrauisch zu sein, uns zu verdemütigen, und unser eigenes Nichts beim Anblick des unabsehbaren Abgrundes unserer Schwäche und Armseligkeit zu erkennen.

 

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Charles Lamb

 

Der heilige Simeon Stylites

 

(Dichter schreiben über Heilige, St. Benno-Verlag, Leipzig, 1963)

 

Der heilige Simeon war eine besondere Persönlichkeit, daran gibt es keinen Zweifel. Dreißig Jahre lang auf der Spitze einer Säule zu leben kennzeichnet einen Mann in der Geschichte, ganz gleich, ob er zufällig ein Heiliger ist oder nicht. Und so war der heilige Simeon mein Liebling, lange bevor ich Katholik wurde, lange auch, ehe ich wusste, dass er ein Heiliger war. Ich erinnere mich an einen Einakter in der Schule, in dem dieser geheimnisvolle Mann als Held auftrat. Ob es ein Lustspiel war oder nicht, habe ich nicht in der Erinnerung, aber wahrscheinlich ist es eins gewesen, da es sich um ein Schulstück handelte. Wie dem auch sei, es war meine erste Begegnung mit dem heiligen Simeon und mit der Tatsache, dass es in der Vergangenheit einige Menschen gab, die auf Säulen standen und jahrelang nichts taten. Aber dies alles liegt lange zurück: Diese Zeiten hüllten sich für mich in Nebel, und Simeon wurde für mich eine Gestalt aus der fernen, dunklen Vergangenheit, wie Alkestis, Orest, Hektor, der trojanische Krieg, Venus, Helena von Troja, Brutus und Cassius, und eine solche blieb er lange Zeit. Aber von Anfang an gab es einen kleinen Unterschied zwischen dieser besonderen Persönlichkeit und den wirklichen oder mythischen Helden des klassischen Altertums, die während des ganzen Winterhalbjahres jeden Dienstagnachmittag um vier Uhr vor einer vorgetäuschten Felsklippe auf den wackligen Brettern einer Schulbühne, in Schals oder nachgemachten Togen gehüllt, auftraten. Denn während alle diese berühmten Gestalten Männer der Tat waren, die große Dinge vollbrachten und für diese litten, schien Simeon durch absolutes Nichtstun berühmt geworden zu sein – wenn er überhaupt berühmt war, ich hatte nie zuvor etwas von ihm gehört. Er hatte nichts getan und erhielt dafür sozusagen doch seinen Lohn – und das machte Eindruck auf mich, denn ich hielt ihn für sehr schlau. In jener Zeit war ich von Natur aus faul – oder besser gesagt: ich war ein Junge -, und meine Vorstellung vom guten Leben waren ewige Ferien mit einem gelegentlichen Kricketspiel, um die Eintönigkeit aufzuheben, und ich dachte, der alte Simeon habe sich eine leichte Aufgabe gewählt, die ich in meinem späteren Leben nach besten Kräften nachahmen wollte.

 

Er war auch eine romantische Figur, denn die Einzelheiten seines Lebens waren in Geheimnis gehüllt. Es gab nur die eine nackte Tatsache, die Säule. Aber eine Menge listiger Fragen erhoben sich: Wie mag er dort gelebt haben? Wie bekam er zum Beispiel seine Nahrung? Wurde sie ihm in regelmäßigen Zeitabständen in einem Korb hinaufgeschickt, oder verließ er sich auf die Gutmütigkeit eines zufällig Vorbeikommenden? Eins schien sicher – er ist dafür nicht heruntergekommen. Es gibt jenen Ausspruch von Mohammed und dem Berg, und es scheint, in diesem Fall musste der Berg schließlich zu Mohammed gehen. Und es gibt auch jenen anderen, geheimnisvollen Ausspruch vom Glauben, der Berge versetzt, und es schien nicht die Grenzen des Möglichen zu überschreiten, dass dieser wunderbare alte Mann – ich stellte ihn mir wirklich alt und natürlich mit einem Bart vor – auf wunderbare Weise von Vögeln oder Engeln genährt wurde. Natürlich bestand auch jene einfachere Möglichkeit, dass er auf seiner Säule ganz ohne Nahrung lebte; aber diese Lösung schien mir zu prosaisch, um wahr zu sein.

 

Dann tauchte eine weitere Frage auf: Wie schlief er? War Simeon, von der Nacht ganz abgesehen, oft in Gefahr herunterzufallen? Aus irgendeinem Grund – heute glaube ich, wegen der Ähnlichkeit des Klanges von „Stylites“ und „Stelze“ – war ich geneigt, mir den alten Mann als eine Art Balancekünstler auf der Spitze einer wackligen Holzkonstruktion vorzustellen, als eine Art Varietékünstler. Als ich dahinterkam, dass die Säule ja aus Stein war, stellte ich sie mir sehr schlank vor, und Simeon saß nicht, sondern hockte auf ihrer Spitze. Ich vermochte mir beim besten Willen nicht vorzustellen, wie er auch nur eine ruhige Nacht dort oben verbringen konnte. Natürlich war er, da er den ganzen Tag über nichts tat, auch nicht sehr müde; aber vermutlich wird er trotzdem in jeder Nacht das Bedürfnis nach ein paar Stunden Schlaf gehabt haben, aber wie kam er zum Schlafen?

Die entscheidende und grundlegende, aber auch die listigste Frage war die: Was hat er mit seiner Zeit angefangen? Was konnte er den ganzen Tag über tun? Er hatte das Problem gelöst, wie man ohne Arbeit lebt, und deshalb bewunderte ich ihn ungeheuer; aber diese Lösung schien selbst der Einsicht meines jugendlichen Alters doch reichlich negativ – eine Existenz, die sich im Nichtstun erschöpfte . . . Gewiss, meine Vorstellung vom guten Leben schloss die Arbeit völlig aus; aber dadurch sollte sozusagen nur der Boden frei gemacht, Platz für endlose Spiele und Vergnügungen geschaffen werden; und die Zahl der Spiele, die auf der Spitze einer Säule möglich waren, dünkte mir doch sehr begrenzt zu sein, auch wenn, wie es nach dem Theaterstück wahrscheinlich zu sein schien, auf einer anderen Säule ein Nachbar hockte, nicht zu weit entfernt für ein nachbarliches Gespräch. Das Problem blieb: Was machte Simeon den ganzen Tag über?

 

Diese Frage, so kindlich sie auch war und so kindlich sie klingt, war nichtsdestoweniger die grundlegende Frage, die sich in Bezug auf diesen alten Mann, der dort oben saß, erhob. „Warum sollte der alte Adler seine Flügel ausbreiten?“ war eine spätere Frage, die Frage des Desillusionierten, des „Aufgeklärten“, die Frage all jener, die ein bestimmtes Alter erreicht haben und keinen Grund einsehen können, noch weiter vorwärtszuschreiten. Damals stellte sich mir diese Frage noch nicht. Für mich, faul wie ich war, bestand das Leben nur aus angenehmer Beschäftigung. Simeon blieb für mich eine Personifikation rühmlicher Nichtigkeit.

 

Und doch war mir klar, dass er, obwohl untätig, keineswegs vollkommen nutzlos war. Offensichtlich, jedenfalls nach dem Einakter zu urteilen, kamen oft Menschen zu ihm, manchmal sogar in Scharen. Das schien mir durchaus verständlich. Ich besuchte die Schule in den dreißiger Jahren, im „Sportjahrzehnt“, in dem täglich Rekorde gebrochen wurden. Da war zum Beispiel Malcolm Campbell, der in seinem „Bluebird“ auf irgendeiner Sandstrecke einen neuen Rekord aufstellte, irgendwo im fernen Kalifornien. Es mag auch in Daytona gewesen sein. Da gab es Non-stop-Tänze und -Klavierspiele, zu denen sich die Paare in irgendeinem Tanzsaal in Blackpool so lange drehten, bis sie entweder aufgaben oder erschöpft zusammenbrachen. Und wiederum in Blackpool gab es einen modernen Fakir, den Diener irgendeiner Religion, vermute ich, der in einer Tonne lebte oder in einer Tonne irgendetwas verrichtete und an dem die Polizei stark interessiert zu sein schien. Dann kam in den dreißiger Jahren Gandhi – mit Leinentuch und Brille -, der Mann, der phänomenale Zeit hindurch hungerte und immer am Ende sein Ziel zu erreichen schien. Der religiöse Inder Gandhi, der christliche Fakirpriester, die sportlichen und tanzenden Rekordbrecher, alle schienen sie etwas mit der mythischen Gestalt des alten Simeon auf seiner Säule gemeinsam zu haben, irgendetwas, was diesem Menschentyp wesentlich erscheint, der weiter kommen will als jeder andere, der in irgendeiner verrückten Richtung glänzt und in die Zeitungen kommen will. Simeon hatte Erfolg gehabt, wie Gandhi Erfolg hatte. Aber war ein solcher Erfolg es wirklich wert?

 

Ich zerbrach mir nie besonders den Kopf darüber, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Mir genügte es, den alten Simeon richtig eingeordnet zu haben. Ich hatte auch Diogenes gehört, und mir schien, dass zu allen Zeiten und überall gewisse Leute etwas Besonderes getan und dafür Beifall geerntet hatten.

 

Dann vergaß ich den heiligen Simeon für lange Zeit. Ich kam in eine zivilisierte Welt, aus der echte Sonderlinge verbannt waren, in der nur die verlogenen Käuze, jene, welche die Spielregeln kennen und wenn sie sie brechen, genau wissen, wie man sie comme il faut bricht, mit offenen Armen aufgenommen werden. Simeon rückte in weite Ferne. Schließlich hatte er vor sehr langer Zeit gelebt und obendrein im fernen Zilizien. Inzwischen hatten sich die Zeiten geändert. Wir waren nicht mehr so ungebildet. Diese haarigen Männer der Vergangenheit, immer mit Bärten, immer grotesk in ihrer voluminösen Bekleidung (da gab es zum Beispiel in der Manchester Art Gallery ein präraffaelitisches Bild von Moses, der aufrecht gehalten wird, um aus der Ferne einen Blick auf das Gelobte Land zu werfen) oder geschmacklos unterbekleidet mit ihren Lendentüchern und kaum mehr – sie standen uns alle so fern! Im Gegensatz zu ihnen kleideten wir uns geschmackvoll, gebrauchten täglich unsere Gilette-Klingen, badeten, lebten in zivilisierten Häusern und nicht in Zelten, gingen ins Kino. Simeon wurde fast prähistorisch. Wir wären nicht überrascht gewesen, wenn wir erfahren hätten, dass er auf einem Dino-Saurier oder Pterodaktylus zu seiner Säule geritten sei.

 

Aber dann änderten sich die Zeiten wieder, die zivilisierte Welt bereitete sich auf den Krieg vor, sie zog in den Krieg. Der Samthandschuh wurde beiseite gelegt, die Eisenfaust erschien. Und wenn man von einer Welt, die mitten im Krieg steht, umgeben ist, beginnt Simeons rühmliche Nichtigkeit einem weniger nichtig zu erscheinen, dafür aber um so rühmlicher. Voll Freude entdeckte ich, dass einige Teile der zivilisierten Welt alte, sonderbare Männer mit Bärten wie Simeon ernst nahmen. Dann entdeckte ich auf einem schönen Bild der Wüstenväter, das jeden abgesondert auf einem kleinen Grundstück, umgeben von Blumen und gezähmten Tieren darstellte, eine blühende Wildnis, und sie schien mir ein gesegnetes Gegenstück zu jener Wildnis, in die unsere modernen Städte verwandelt wurden, als die Bomben dichter und immer dichter fielen. Ich begann mich verwundert zu fragen, ob diese alten Sonderlinge denn überhaupt so sonderlich waren, ob Simeon vielleicht gar nicht der Narr war, der er mir bis dahin zu sein schien.

 

Seitdem habe ich ein wenig mehr über den heiligen Simeon erfahren; nur ein wenig, aber genug, um meine jugendliche Verwunderung über diesen wunderlichen Mann eher zu steigern als abzuschwächen. Offenbar ist er nicht immer alt und bärtig gewesen. Als Junge wenigstens scheint er der ganz normale Sohn eines Schäfers gewesen zu sein – das heißt selbst ein junger Schäfer –, bis er eines Tages nach einem Kirchgang plötzlich die Überzeugung gewann, dass er ins Kloster gehen müsse. Über das Geheimnisvolle und Providentielle dieses Impulses lässt sich kaum etwas sagen.

 

Sein Eintritt ins Kloster vollzog sich auf ungewöhnliche, aber höchst charakteristische Weise: Fünf Tage und fünf Nächte lag er auf dem Boden vor der Klosterpforte, bis man ihn endlich einließ. An dieser Erfahrung scheint er Gefallen gefunden zu haben, denn im Kloster begann er ungewöhnliche Dinge ähnlicher Art zu verrichten. Als die anderen ihm Vorwürfe machten, lief er zu einer verlassenen Zisterne, versteckte sich dort, wurde entdeckt und gewaltsam zurückgeholt. Er sah weder ein, warum sie ihm Vorwürfe machen sollten, wenn er nur an einem Tag der Woche etwas aß und den Rest seiner Nahrung den Armen gab, noch warum er den Körper nicht mit einer festen Schnur umgürten sollte, so dass das Fleisch darüber hinwegwuchs, wenn er es für notwendig hielt, sein rebellisches Fleisch so zu züchtigen. In einem Kloster des fünften Jahrhunderts gab es nichts, was wir als Nachsicht gegenüber der eigenen Person bezeichnen könnten. Aber offensichtlich war es für Simeon noch zu sanft, denn nach einem Jahr verließ er das Kloster wieder, und zwar endgültig.

 

Er ging zu einem Berg in der Nähe, dem Telanassus, und hier wurde er schließlich, auf seiner Säule verborgen, berühmt. Er stieg nicht sofort auf die Spitze des Berges, sondern lebte in dem relativen Luxus – nach einem einleitenden vierzigtägigen Fasten – eines kleinen Hauses unterhalb des Gipfels. Plötzlich, vielleicht als er in einem Augenblick der Schwäche zu entkommen wünschte, mauerte er sich ein. Aber er sah darin keine Chance, und als er sich erinnerte, dass Steinwände noch kein Gefängnis ausmachen, verschaffte er sich eine große Eisenkugel, an der er sich festkettete. Eines Tages besuchte ihn Meletius, der stellvertretende Bischof von Antiochien. Wenn der Wille wirklich da sei, bemerkte er, erübrigt sich die Kette, und trotz all seiner Strenge wies Simeon den Wink des Prälaten nicht zurück, er kettete sich sorgsam wieder los. Der Wille bewies, dass er wirklich da war, denn der Heilige blieb auf seiner Bergspitze, bis er starb.

 

Nach dem Bericht seiner beiden Freunde, Schüler und Biographen, Antonius und Theodoret, war die Frucht seiner Absonderung eine ungeheure Anzahl von Bekehrungen unter den wilden arabischen Stämmen, welche die milderen Missionare des Christentums gar nicht beachtet hatten. Gott, sagt Theodoret, findet Gefallen daran, Heilige zu erwecken, die sich durch besondere Merkmale der Heiligkeit auszeichnen, den verschiedenen Zeiten entsprechend. Und die wilden Iberer, Perser, Ismaeliten und Armenier brauchten offensichtlich einen Mann, der in seiner Heiligkeit genauso unbändig war wie sie in ihrem Leben, ehe sie zu den Wassern der Taufe geführt werden konnten. Immerhin, sie waren von seiner Grimmigkeit gegen sich selbst so beeindruckt, dass sie in Scharen zu dem alten Mann auf dem Berg kamen, um sich bekehren zu lassen. Ich habe mich gefragt, ob hinter seiner Strenge vielleicht ein Sinn für sehr schlauen bäurischen Humor versteckt lag, denn Simeon bewegte sich, um seiner wachsenden Popularität zu entgehen, nicht horizontal, sondern vertikal. Der Wille war noch da, nicht einmal Berühmtheit konnte ihn brechen, und Simeons Säule, die am Anfang sechs Ellen hoch war, wuchs auf zwölf an. Am Ende erreichte sie eine Höhe von sechsunddreißig Ellen, und immer kamen noch raue Kerle, um sich bekehren zu lassen. Simeon scheint sich wenig auf seine Erhebung eingebildet zu haben, denn auf ein Wort seiner Vorgesetzten, der Bischöfe oder Äbte der Umgebung (man fragt sich, ob Meletius einer von ihnen war), zeigte er sich sofort bereit, zur Erde herunterzukommen. Aber die Würdenträger, die seinen Gehorsam und seine Demut erprobt hatten, beschlossen schließlich, dem alten Adler die Flügel nicht zu stutzen, und Simeon blieb auf seiner Säule auf dem Gipfel des Berges.

 

Von diesem hohen Platz aus predigte er, so wird erzählt, zweimal am Tag, manchmal stundenlang. Natürlich fastete und betete er auch. Er heilte die Kranken. Er war sogar eine Art Richter. Hier besuchte ihn seine verständnislose Mutter, hier starb sie, klagend, dass ihr eigen Fleisch sich so grausam selbst getötet habe; und ihr Sohn weinte mit ihr. Hierher kam auch ein Dieb namens Jonathan, um Schutz, Bekehrung und den Tod zu finden, alles innerhalb einer Woche. Und hier starb schließlich auch der alte Mann selbst, nachdem er drei Tage lang seine Säule im Gebet umklammert gehalten hatte. Den Körper holte der treue Antonius herunter und brachte ihn nach Antiochien. Dort wurde er unter großer Verehrung bestattet.

 

Ich habe das Gefühl, als ob dieser Heilige von den „Durchschnittskatholiken“ noch ein wenig von der Seite angesehen wird. Und in einer Zeit, in der ich den unbedingten Wunsch hatte, in jeder Hinsicht orthodox zu sein, im Großen wie im Kleinen, versuchte ich ebenso über ihn zu denken und mir vorzumachen, Heiligkeit werde besser in den Salons erreicht, wie es beim heiligen Franz von Sales der Fall war, als auf der Spitze einer Säule wie beim heiligen Simeon. Aber da die Zeiten sich stets ändern und immer wieder die gleichen werden, kehre ich allmählich mit größerem Eifer zu meinem alten Lieblingsheiligen zurück. Außerordentliche Zeiten erfordern außerordentliche Charaktere, außerordentliche Krankheiten außerordentliche Ärzte. Der heilige Simeon ist für mich die vollendete Gestalt eines außerordentlichen Heiligen. Ich glaube, wir brauchen mehr von dieser Art.

 

Weshalb eigentlich bewundern wir – bewundere ich – den heiligen Simeon so enthusiastisch? Wegen seines erschreckenden Talents, nichts zu tun. Der heilige Simeon steht – sitzt oder hockt – als der rein Kontemplative, der Adler, der in die Sonne schaut, hoch oben in seinem Horst, der Beobachter im Krähennest. Ich weiß, die Lehrbücher berichten – und das Leben der meisten Heiligen bezeugt es -, dass das Leben der Kontemplation nicht ein physisch untätiges Leben ist, dass die großen beschaulichen Menschen ebenso große Männer der Tat waren. Aber es ist eine andere Art des kontemplativen Lebens, eine andere Art der Heiligkeit, deren meiner Meinung nach die moderne Welt bedarf.

 

„Lehre uns sorgen und nicht sorgen,

lehre uns stillsitzen.“

 

Der heilige Simeon hatte sicher gelernt, stillzusitzen, und er kann uns wie kaum irgendeiner von den Heiligen der Christenheit lehren, wie wir das gleiche tun sollen.

 

Warum können wir denn nicht stillsitzen? Warum müssen wir immer etwas tun? Ich bin sicher, der größte Teil der Ruhelosigkeit des Westens geht aus dieser Furcht vor der Langeweile hervor, und Langeweile heißt, der eigenen Leere gegenübergestellt sein. Deshalb ist die kindliche Frage „Was machte Simeon den ganzen Tag über?“ in hohem Maße berechtigt. Wenn wir nicht mehr von ihm sagen könnten, als dass er der Langeweile entgegentrat, mit ihr kämpfte, ihr nicht unterlag – nicht von seiner Säule herunterstieg -, sondern sie besiegte und dort oben blieb, nichts tuend, dann, denke ich, wäre das genug, um ihn zum Thema einer lohnenden Studie und zum Gegenstück zu unserer Zeit zu wählen.

 

Simeon verließ die Stätten der Zivilisation nicht ganz und gar, so weit ging er und nicht weiter, weit genug, um aus allem heraus zu sein, aber nicht weit genug, um unbeachtet und vergessen zu werden. Simeon tat nichts – außer für Gott leben: und darum wurde er der heilige Simeon. Aber auch wenn wir seine vollendete Heiligkeit, die übernatürliche Frucht dessen, was er wirklich „dort oben“ tat, während er nichts zu tun schien, außer acht lassen – wenn wir das alles vergessen und uns nur auf die menschliche Geste konzentrieren, haben wir noch reichlich genug zu bewundern. Ich habe den heiligen Simeon zu meinem Lieblingsheiligen erwählt, weil er sozusagen am östlichsten Ende der westlichen Christenheit wohnt, weil er diese ganz anders geartete Welt des Ostens verkörpert, die nur mit Mühe für das Christentum gewonnen werden konnte. Ihm ist es, würden die meisten Menschen im Westen sagen, gerade noch gelungen, hineinzukommen. Es ist notwendig, werden sie weiter sagen, vor allem gewarnt zu werden, was in seinem Beispiel übertrieben ist, besonders vor dem geistigen Stolz, der leicht hinter einer solchen außergewöhnlichen Lebensart steht. Aber genau das Gegenteil scheint mir wahr zu sein, denn die christliche Religion wie die übrige Welt leiden an einer Überdosierung des westlichen Geistes: Wir brauchen eine mächtige Injektion vom Osten her, je stärker und spürbarer, um so besser. Simeon mag nicht wie Léon Bloy auf die Welt gespuckt haben, aber er wandte ihr den Rücken und kehrte sein Gesicht der Sonne zu. Simeon repräsentiert einen Typ, der mich immer fasziniert hat, den des Außenseiters, des Ismael, des Sündenbocks. Aber er ist ein Außenseiter von besonders nachgiebiger Art: Er geht nicht in die Wüste und verbirgt sich in einer Höhle, er geht eine gewisse Strecke aus der Stadt hinaus, nicht zu weit, und macht dort „einen Laden auf“.

 

Er ist – wenn man es so ausdrücken will – ein Aussteller im wahrsten Sinn des Wortes, er ist entschlossen, eine Ausstellung von sich selbst zu veranstalten. Vermutlich hatte er einen Grund dafür, und vermutlich war sein Grund – da er der heilige Simeon ist – triftig. Es gleicht einer Umwandlung aller Werte, wenn man die Erde verlässt und hoch oben in der Luft lebt, ununterbrochen die Füße vom Boden erhoben. Es ist ein Benehmen – genauso wagemutig wie das eines Ikarus, abgesehen von dem festen Fels der Heiligkeit darunter. Es ist eine Kühnheit damit verbunden, die zurückgezogenere Typen der Heiligkeit beleidigt. Eine orientalische Extravaganz, entblößt von allem orientalischen Glanz, die mich stark beeindruckt, da ich der Ansicht bin, dass sie unserer Zeit besonders angemessen ist.

 

Ich glaube, dass ich jetzt nicht mehr in Gefahr komme, den heiligen Simeon mit bloßen Rekordbrechern zu verwechseln. Ich glaube auch nicht mehr, dass er irgendeinen anderen ausstechen wollte. Aber ich bin noch immer fest davon überzeugt, dass er hervorstechen wollte – durch Heiligkeit. „Lasst euer Licht leuchten vor den Menschen . . .“ „Eine Stadt, die auf einem Berg steht, kann nicht verborgen bleiben.“ „. . . noch zündet jemand ein Licht an und stellt es unter den Scheffel.“ Und obwohl Heiligkeit den Förmlichkeiten und dem Klatsch eines Fünfuhrtees trotzen können, zu unserer Belehrung und Ermutigung, scheint unsere Welt trotzdem eine besondere Art von Heiligkeit zu erfordern, eine Heiligkeit, deren Impuls von menschlicher Seite her so außergewöhnlich und radikal ist wie die Welt, in der wir leben . . .

 

Aber nach alldem bewundere ich diesen Heiligen nicht nur, ich liebe ihn wirklich. Und warum? Der heilige Simeon ist das gewesen, was ich sein möchte, wenn ich statt der Feigheit des Sünders den Heldenmut des Heiligen besäße. Ich hätte gern jenen Mut, den Spott derer zu ertragen, die verspotten, was ich liebe. Ich möchte den Stein, mit dem man nach mir wirft, gern willkommen heißen. Ich wollte gern hoch oben auf einer Säule stehen, anstatt hier unten auf dem Boden in der Menge, während ich meine Sympathie für den Mann dort oben feige verstecke. Man fühlt sich sicher in der Menge, und darum ging Simeon allein dort oben hinauf. Dem Furchtsamen erfasst der Schwindel beim Anblick großer Höhen; aber Simeon bot ihm die Stirn.

 

Ich halte den Mann auf dem Felsen für einen Weisen, für einen Mann Gottes. „Kommt in den Schatten dieses roten Felsens.“ Ich sehne mich, in den Schatten seiner Säule und seiner Heiligkeit zu treten, weil er in meinem Geist mit der Stärke des Felsens, auf dem er thronte, lebt; weil er sich dort wie ein Leuchtturm aus einem besseren Land und einer besseren Zeit erhebt, in der Heiligkeit noch seltener, einfacher und heroischer war, als die von Ewigkeit Auserwählten noch deutlicher erkennbar unter den immer leuchtenden Sternen wandelten, Himmel und Hölle dichter beieinanderlagen und das Schwert des Geistes erbarmungsloser zuschlug. Die Menschheit hat sich immer nach einem goldenen Zeitalter gesehnt, das sie in der Zeit entweder vor- oder zurückverlegt. Wenn sie es in die Vergangenheit verlegt, ist es die Zeit der großen Männer, die zehn Fuß groß waren; wenn in die Zukunft, die Zeit der Flügel. Simeon hatte keine Flügel; aber er hat sein Bestes getan, um von der Erde loszukommen. Er war nicht zehn Fuß groß; aber er hat es fertiggebracht, noch höher zu kommen. Mein Bild von ihm ist, wie Sie sehen, reichlich phantasievoll; er ist mein vollkommener geistlicher Vater.