Die heilige Scholastika ist die Zwillingsschwester des heiligen Ordensgründers Benedikt. Zusammen mit ihm erblickte sie im Jahr 380 in dem Städtchen Nursia, halbwegs zwischen Rom und Neapel, das Licht der Welt. Scholastika war ein fröhliches Kind, von Natur aus heiter veranlagt und immer lustig. Deswegen war sie auch bei den Leuten beliebt. Wenn man sie schnellen Schrittes dahineilen sah, freute man sich, wie man sich eben freut, wenn man zufällig eine schöne weiße Taube erblickt. Schon lange galt die weiße Taube als Sinnbild der Unschuld, und von Unschuld strahlte auch das Mädchen Scholastika.
Schon früh half Scholastika hilfsbedürftigen Menschen und war Fürsorgerin den Armen und Kranken in ihrem Heimatstädtchen Nursia. Da war sie auch am richtigen Platz, denn durch ihre Munterkeit machte sie alle Leute froh, und Freude ist bekanntlich die beste Medizin. Da war beispielsweise ein griesgrämiger alter Mann, der jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang stöhnte. Oft besuchte Scholastika den Stöhnerich und erzählte ihm ein paar drollige Geschichten. Erst wollte der Alte überhaupt nicht lachen, dann musste er lachen, und schließlich lachte er sich gesund. Auf diese und ähnliche Weise tat Scholastika viel Gutes, und die Leute waren froh mit ihr.
Als später Sankt Benedikt das große Kloster auf dem Cassinoberg gründete, verließ Scholastika zum Leidwesen aller die Heimat, bezog am Fuß des Berges eine Wohnung und nahm sich der Arbeiter an, die das Kloster errichteten, kochte, wusch und flickte für sie und war wie eine Mutter gut zu allen. Und während der ernste Bruder in seiner Zelle betete und sich selten sehen ließ, flog Scholastika wie eine Taube auf der Baustelle umher und rief den Arbeitern manch lustigen Scherz zu, dass sie lachen mussten und dadurch leichter über die Mühen hinwegkamen, die mit der Arbeit unter der heißen südländischen Sonne verknüpft waren.
Ein einziges Mal nur im Jahr erlaubte der strenge Sankt Benedikt der Schwester, dass sie zu ihm kam und sich mit ihm unterhielt. Die beiden trafen sich auf einem Pachthof außerhalb des Klosters und redeten von diesem und jenem einen ganzen Tag lang. Scholastika kam es vor allem darauf an, von dem gelehrten Bruder zu erfahren, wie es im Himmel aussehe, denn dahin sehnte sie sich mit ganzer Seele. Und wenn dann der gelehrte Bruder von den Schönheiten des Himmels erzählt hatte, so war die Schwester wieder getröstet und gestärkt, um für das nächste Jahr das Leben in Freude auszuhalten und alle mit Freude anzustecken.
Jahr für Jahr geschah es so, und als sich die Geschwister wieder einmal trafen, fühlte Scholastika, die ziemlich krank und schwach geworden war, dass sie bei dieser Gelegenheit zum letzten Mal den Bruder auf der Erde sah. Deshalb bat sie ihn gegen Abend, als er sich erhob, um ins Kloster zurückzukehren, er möge doch bei ihr bleiben und ihr noch mehr vom Himmel erzählen. Der ernste Benedikt wollte ihr diese Bitte aber nicht erfüllen und verwies auf die strenge Ordensregel, die es nicht gestatte, dass ein Mönch auch nur eine einzige Nacht außerhalb der Zelle verbringe.
Scholastika war enttäuscht, aber nicht entmutigt und sagte still zu sich selbst: „Warte nur, Bruder, wenn du nicht willst, so wird Gott mir helfen.“ Schalkhaft beugte sie dann den Kopf in die Hände und tat so, als schäme sie sich, eine unpassende Bitte ausgesprochen zu haben. In Wirklichkeit betete sie jedoch herzinnig, Gott solle irgendetwas unternehmen, um den strengen Bruder zum Bleiben zu zwingen. Gott half auch sofort, denn mit Minutenschnelle ging ein Platzregen nieder, der die ganze Nacht anhielt, so dass Benedikt notgedrungen bis zum Morgen bleiben musste und Scholastika mit ihm reden konnte.
Drei Tage später starb sie, und Sankt Benedikt sah von seiner Zelle aus, wie ihre Seele in Gestalt einer weißen Taube zum Himmel emporstieg.
Sehr merkwürdig ist die letzte Zusammenkunft zwischen dem heiligen Benedikt und seiner Schwester Scholastika, die der heilige Papst Gregorius selbst beschrieben hat. Diese Zusammenkunft wird von einem freundlichen Sänger schön auf folgende Weise erzählt:
Scholastika, die gottergebene Nonne,
Des heil`gen Benediktus Schwester, pflegte
Einmal des Jahrs den Bruder zu besuchen.
Einst auch erschien sie zur gewohnten Zeit,
Und nach Gewohnheit stieg der Abt sofort
Von seinem Berg herab, um mit der Schwester
Im nächsten Dörfchen des Gesprächs zu pflegen.
Der Tag verging, die Sonne stand schon tief;
Noch immer wechselten Scholastika
Und Benediktus inhaltreiche Reden.
Die Sonne sank, die Abendröte glänzte;
Das fromme Paar, zum trauten Mahl sich setzend
Fuhr fort des heiligen Gesprächs zu pflegen.
Das Abendrot verblich, der Mond ging auf,
Vom heitern Himmel blitzten hell die Sterne;
Da sprach der fromme Abt: Spät ist die Stunde;
Der Herr sei mit dir, Schwester! fahre wohl!
Doch ahnend sprach Scholastika zu ihm:
Bleib bei mir, Bruder, diese einz`ge Nacht!
Wer weiß, wann wir uns wiedersehn? Wie bald
Ist eine Nacht dahin! Lass bis zum Morgen
Uns reden von des ew`gen Lebens Freuden.
Doch Benediktus sprach: Wie magst du solches
Begehren, Schwester! nicht geziemt dem Mönch,
Zu bleiben außer seines Klosters Ring
Die Nacht hindurch. Ich scheide. Fahre wohl!
Allein Scholastika, die Fromme, lehnte
Gefaltet auf den Tisch die Hände, barg
Ihr Antlitz in die Hände, und betete
Mit solcher Inbrunst, dass die Tränen reichlich
Durch die gekreuzten Finger niedertrofen.
Und ehe sie das Antlitz noch vom Tisch
Erhoben, trübte sich der heitre Himmel.
Der Donner krachte. Blitze flammten rings
Ein schwerer Sturm kam auf. Ein Wolkenbruch
Ersäufte nah und fern das bange Land.
Unmöglich war dem Abt und seinen Freunden
(Steil der Berg, der nasse Fußpfad schlüpfrig)
Für diese Nacht zum Kloster heimzukehren.
Unmutig sprach der Abt: Warum, Schwester,
Hast du mir das getan? wie wird der Mönch
Die Regel ehren, die der Abt nicht hält?
Scholastika sprach kosend: Trauter Bruder,
Dich bat ich, und blieb unerhört. Ich bat
Den Herrn, und er erhörte mich. Er weiß
Um meine Liebe. Lass uns fröhlich sein!
Und fröhlich war der Abt den Rest der Nacht
Mit der geliebten Schwester. Während draußen
Die Stürme brausten, und der Regen klatschte,
Ergötzte sich das gottergebne Paar
In himmlischen Gesprächen. Vieles sprachen
Sie von der Ewigkeit und ihren Freuden,
Und von der süßen Hoffnung, dermaleinst
Den Herrn von Angesicht zu seh`n, und ewig
Bei ihm zu bleiben samt den teuren Freunden.
Zu schnell entfloh die ganze Sommernacht.
Vorüber war der Sturm, die Sonne ging
Erquickend auf, und Benediktus schied
In Frieden jetzt von der geliebten Schwester.
Nach dreien Tagen starb Scholastika;
Und in dem Augenblick, worin sie starb,
Sah Benediktus, einer Taube gleich,
Zum Himmel ihre reine Seele schweben.
Da schlug das Herz ihm. Eine Stimme sprach:
Die Regel, Abt, ist aller Ehre wert,
Doch größrer Ehre würdig ist die Liebe.