Der Weingarten- und Neckargau bildeten den Südwesten des ehemaligen Ostfrankens. Der Neckar schied hier die Bistümer Würzburg, Speier und Worms. Das Dunkel der ersten Geschichte des anmutigen Neckartales wird von einer wundersamen Erscheinung erhellt. Eine Notburga ist es, nicht weniger lieblich als die bekannte Notburga des Tirolerlandes. Dichter haben sie verherrlicht. Was aber die Geschichte von ihr berichtet, beruht nur auf der Überlieferung des Volkes. Wer will die Sage und Wahrheit scheiden? Wer kann, wo Dichtung und Geschichte so eng ineinandergewachsen sind, immer mit Gewissheit sagen, was der einen oder der anderen zuzuschreiben ist? Wird man aber in einem herrlichen Tempel die prächtigen, in rätselhaftem Licht schimmernden Glasgemälde ausbrechen, um mehr Licht zu erhalten?
Die Legende unserer Notburga wird gewöhnlich so überliefert:
Im Jahr 622 übergab Chlothar II. den östlichen Teil des großen Frankenlandes, Austrasien, mit der Hauptstadt Metz seinem Sohn Dagobert I., während er selbst zu Paris über Neustrien oder Westfranken herrschte. Dem jungen König wurde eine Tochter, Notburga, geboren. Er war aber ein zügelloser Mensch und so kam es, dass er die Mutter der kleinen Notburga verstieß. Sie wuchs heran, nach Art der Fürstentöchter jener Zeit am Spinnrocken und Webstuhl und am häuslichen Herd tätig, aber auch viel vertieft in die Lesung frommer Bücher. Das von der Mutter getrennte und vom Vater vernachlässigte Kind wendete sich ganz dem Himmel zu. Der Umgang mit Pippins Töchtern, der Ratgeber Dagoberts war, mit Gertrud, der künftigen Äbtissin von Nivelle, und Begga, bestärkte sie in ihrem gottzugewandten Sinn und der Segen des heiligen Arnulf, des Bischofs von Metz, der sich vom Hof zurückzog, fiel wohl zum großen Teil auf die halbverwaiste Jungfrau. Sie betrachtete sich als Braut des Herrn.
Damals, im Jahr 630, kam es zum Krieg mit dem Wendenfürsten Samo. Das Kriegsglück war den Franken nicht günstig. So bot Dagobert die Hand zum Frieden. Zu Mosbach in der Neckargegend oder auf der Burg Hornberg verhandelte er mit Samo, der als Preis des Friedens den Besitz der Königstochter Notburga verlangte. Der König willigte ein. Die unglückliche Notburga aber umfasste die Knie des Vaters und bat innigst: „Gern will ich mein Blut hergeben für dich und dein Volk, aber überliefere mich nur nicht diesem Heiden. Untreu seinem Gott und seinem Vaterland – Samo war ein geborener Franke – wird er auch dir sein Wort nicht halten.“ Dagobert blieb unbeugsam. Da entschloss sich Notburga zur Flucht. Mit einem alten Diener überschritt sie einen Berg; nun gebot ein Fluss ihren Schritten Halt. Ratlos standen beide ihm gegenüber. Doch Gott ist es, der selbst auf das Nest des Sperlings schützend niederschaut. Zu ihm wandte sich Notburga in ihrer Not. Es knistert im Buschwerk. Was schaut sie? Den weißen Hirsch, den Gespielen ihrer Kindheit, der ihr von des Vaters Burg gefolgt war. Und als ob es sagen wollte: „Komm, ich will dich retten,“ beugte das kluge Tier die Knie und bot ihr den Rücken dar. Vertrauend auf des Himmels Schutz setzte die entschlossene Jungfrau sich auf und wurde sicher über den Fluss getragen. Der Alte kehrte heim an den Königshof.
Dort suchte man am anderen Morgen die Königstochter vergebens. Er einzige, der um das Geheimnis wusste, schwieg getreulich. Am Mittag kam zu ihm der weiße Hirsch aufs Schloss. Der Diener reichte dem Retter seiner Gebieterin Brot zur Labung, dieser aber neigte den Kopf, dass man es auf sein Geweih stecken möge. Dann eilte er fort, das Brot seiner Herrin zu bringen. So kam er täglich und erhielt Speise für sie. Viele sahen ihn, auch der König wurde schließlich aufmerksam, aber niemand konnte über den sonderbaren Vorgang Aufschluss geben. Da folgte einmal Dagobert mit Begleitern dem Hirsch nach durch den Wald und Fluss. Drüben verschwand er in einer Höhle. Und was schaut hier der Vater? Vor einem aus zwei Holzstäben gebildeten Kreuz kniet die gesuchte Tochter, mit gefalteten Händen betend; neben ihr ruht der Hirsch. Der lieben Maid war alles Rot von den Wangen gewichen, da sie das Tageslicht mied. Darüber erschrak der Vater. Unter Tränen bat er sie mit ihm heimzukehren. Allein Notburga entgegnete fest: „Ich habe mein Leben Gott gelobt und suche nichts mehr bei den Menschen. Nimmer werde ich den Zufluchtsort, den er mir selbst gezeigt hat, verlassen.“ Der Vater bat, er drohte; die Tochter blieb bei ihrem Entschluss. Vom Zorn erfasst, wollte er sie nun mit Gewalt vom Kreuz, das sie umklammerte, wegreißen. Doch siehe! Der Arm, an dem er sie fortzerren wollte, löste sich vom Leib und blieb in seiner Hand. Von Entsetzen ergriffen, ließ er ihn fallen und floh, wie von bösen Geistern verfolgt, zur Burg zurück.
In Ohnmacht lag Notburga da. Als sie wieder zu sich kam, bat sie Gott, er möge sie in seinen himmlischen Frieden eingehen lassen. Er aber, der sie schon einmal wunderbar gerettet, wollte sie auch wunderbar heilen. Eine Schlange kommt zur Höhle herein, die ein zartes Heilkraut im Mund trägt. Einer Eingebung folgend, nimmt die Jungfrau die Blätter, legt sie auf die Wunde und diese schließt sich fast in diesem Augenblick. Nach anderer Erzählung sei sogar der Arm wieder angewachsen.
Die heilige Notburga blieb nun unbehelligt in ihrer Behausung. Sie blieb aber nicht untätig, wurde vielmehr zum Segen für die ganze Umgebung. Die Legende schreibt ihr nämlich das Verdienst zu, das Licht des Glaubens ins Land getragen und das Volk in den friedlichen Künsten des Landbaues und des häuslichen Lebens unterrichtet zu haben. Denn wenn auch die Kunde des Evangeliums vom Rhein schon herübergedrungen sein mochte, so waren es doch in jener Gegend Mitteldeutschlands erst nur einzelne Bekenner, die danach ihr Leben einrichteten. St. Notburga war die erste Heilige, die durch das Evangelium der Tat, durch ein wahrhaft heroisch christliches Leben besser als durch alle Predigten und Bücher die Wahrheit und Kraft der Lehre Christi erwies. „Verkündet, was ihr gesehen habt,“ gibt Jesus selbst als Beweis für seine göttliche Sendung an.
Einen Liebling Gottes wie St. Notburga lässt die fromme Überlieferung auch im Tod mit dem Strahlenkranz des Wunders umleuchtet sein. Ihre Lebensfrist ist ungewiss und erstreckt sich höchstens bis zum Jahr 649. In einer Nacht wurde ein heller Glanz über der Höhle gesehen. Am Morgen fand man die Jungfrau als Leiche. Engel waren gekommen und hatten die Seele zum Himmel geleitet, den Leib aber in weißes Gewand gehüllt und in frische weiße Rosen gebettet. Ein weißer Blütenkranz schmückte das Haupt. So legte man die entseelte Hülle auf einen schön gezimmerten Wagen und ließ ihn von weißen Stieren, die noch kein Zugjoch getragen hatten, ziehen, wohin sie gehen würden. Der Pfad, den sie wandelten, schien blendend weiß, wie mit Schnee bestreut. Nach einer Viertelstunde Weges hielt der Zug beim Dorf Hochhausen an der Stelle der jetzigen Kirche. Hier fand die Heilige ihre Ruhestätte. Ihr treuer Ritter und Begleiter aber, der Hirsch, der sie noch zu Grabe geleitet, verschwand und wurde nicht mehr gesehen.
Die geschichtlichen Beziehungen, die unsere liebliche Legende enthält, können als sicher nachgewiesen werden. Was aber die Feder des Geschichtsschreibers zu melden versäumt hat, das hat der Meißel des Künstlers nachgeholt. Sein Werk trägt deutliche Spuren der Echtheit an sich. In der Kirche zu Hochhausen bezeichnet ein Denkmal ihr Grab. Es ist eine steinerne Grabplatte, die in erhabener Arbeit die Königstochter in Purpurgewand und goldener Krone darstellt. Der linke Arm fehlt ihr, die rechte Hand dagegen hält die Schlange mit dem Kraut. Das gleiche Sinnbild ist unterhalb der Füße am Sockel angebracht. Die Tracht und künstlerische Auffassung reichen mit Sicherheit in die Zeit der Karolinger zurück. Auch die große Wallfahrt zu ihrem Grab setzt ihren Ursprung in früheste Zeiten. Namentlich am 15. September kamen alljährlich die Pilger, das Fest „der Heiligen des Kraichgaues“ mitzufeiern. Durch das ganze Mittelalter setzte sich ihre Verehrung fort. Die Kirchentrennung hat ihr großen Abbruch getan.
Der Weg, den der Leichenzug Notburgens genommen hat, soll heute noch „Blumenweg“ heißen. Der Lebenspfad der Heiligen ist wohl dornig, wird aber zuletzt ein blumiger Weg zur „Gotteshöh`“. Wer um Christi willen, im Kampf gegen die verderbte Welt, die Kraft seines Armes verliert, d.h. sich willig irdischer Macht und Geltung entäußert, den wird der Herr „mit starkem Arm herausführen“ (Apostelgeschichte 13,18) aus der Drangsal. Gläubiges Gottvertrauen und Sittenreinheit erweisen sich ihm als die feste Burg, an der des Lebens Not sich bricht.