Von Haus aus hieß unser Heiliger Pierrozzi. Der Vater war Notar in der Stadt Florenz. Er selbst erhielt in der Taufe den Namen Anton, daheim aber nannte man ihn Antonin, das heißt auf Deutsch Antönchen. Viele Eltern machen es bekanntlich auch so, dass sie beispielsweise einen Johannes Hansi und eine Johanna Hannele nennen. Während nun gewöhnlich, wenn der Junge oder das Mädchen größer werden, die Kindernamen immer seltener gebraucht werden, blieb das „Antönchen“ bei dem Heiligen haften, und das kam daher, weil der Junge mit dem Wachsen nicht voranmachte. Er konnte essen, soviel er wollte, er wurde und wurde nicht größer. So ist er sein ganzes Leben das Antönchen geblieben. Im Übrigen aber ist der Mann wieder einmal ein Beweis für die Tatsache, dass man den Verstand eines Menschen nicht mit seiner Körpergröße messen kann, denn wie klein Antonin von Gestalt war, so groß war er an Geist.
Einer von denen, die über Antonins Geistesgröße vor Staunen nicht hinwegkamen, war der Dominikanerpater Johannes. Der Pater war ein kräftiger Redner, und als er eines Tages über Himmel und Hölle in einem gepredigt hatte, stellte sich ihm nachher der damals fünfzehnjährige Antonin Pierrozzi vor und bat um Aufnahme in den Orden. Pater Johannes sah sich das Kerlchen, das er für einen Siebenjährigen hielt, von oben bis unten an, und indem er ihm ein dickes lateinisches Buch reichte, sagte er: „Schau, Junge, wenn du das Buch in einem Jahr auswendig gelernt hast, darfst du wiederkommen, und dann nehme ich dich auch in den Orden auf.“
So sagte Pater Johannes, nicht im Ernst, sondern im Scherz, denn erstens konnte er doch keine Kinder ins Kloster aufnehmen und zweitens dachte er bei sich, dem Jungen werde über dem Auswendiglernen des dicken lateinischen Buches schon die Lust am Ordensleben vergehen. Acht Tage später hatte der Pater die Geschichte bereits vergessen. Wer aber beschreibt sein Erstaunen, als sich Antonin ein Jahr später bei ihm wieder einfand und das Buch tatsächlich auswendig wusste? Pater Johannes kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, und als er außerdem erfuhr, dass der scheinbar Achtjährige bereits sechzehn Jahre zählte, durfte er gleich im Kloster bleiben.
Antonin war also im Kloster. Da nahm er, wie klein er auch war, wie ein Riese seinen Weg, wurde später Priester und Prediger und war ein tüchtiger Beichtvater und ein weiser Ratgeber. Es hat wenige Menschen gegeben, die so klug waren wie der kleine Dominikanerpater Antonin. So ist es verständlich, dass er Ordensoberer und nachher sogar Erzbischof von Florenz wurde, und in allen Ämtern hat er sich trefflich bewährt. Er war klein, aber wacker, und als er am 2. Mai 1459 starb, ging mit ihm ein großer Mann zu Grabe.
Zum Schluss muss aus dem Leben des heiligen Antonin noch eine Legende erzählt werden.
Weil Erzbischof Antonin nicht nur ein tüchtiger Mann, sondern auch ein Heiliger war, sah er mehr als die gewöhnlichen Leute von jenen Dingen, die unsichtbarerweise immerwährend zwischen Himmel und Erde geschehen. So erblickte er einmal bei einem Gang durch die Stadt Florenz über einer armseligen Hütte Engel in der Luft schweben. Neugierig betrat der Erzbischof die Wohnung und traf darin eine Witwe mit drei Töchtern, die sich ehrlich und ehrsam in harter Arbeit mühselig durchs Leben schlugen und trotzdem nicht selten hungern mussten. Antonin erbaute sich an den braven Leuten und unterstützte sie in der Folgezeit mit Almosen.
Über ein Jahr kam der Heilige erneut an der Hütte vorüber. Da sah er aber keine Engel mehr über dem Dach, sondern Teufel, die recht fröhlich und heiter zu sein schienen. Wieder betrat Antonin neugierig das Haus und stellte fest, dass die Leute, weil sie keine Not mehr ausstanden, auch nicht mehr arbeiteten, sondern auf der faulen Haut lagen, gut aßen und tranken, schlechte Bücher und Zeitschriften lasen und mit unheiligen Leuten Umgang hatten.