Vor vielen Jahren geschah es, dass einmal in dem Weiler Flamske bei Coesfeld in Westfalen ein kleiner Bauersmann, der eine geschickte Hand hatte, einem Nachbarn aus Gefälligkeit eine wackelige Holzbank ausbesserte und sie zum Teil mit neuen Brettern aus dem eigenen Besitz wiederherstellte. Dabei fielen Späne von den alten und den neuen Brettern. Ein siebenjähriges Mädchen, des schreinernden Mannes Tochter Anna Katharina, sammelte die Späne für den Hausbrand. Das Kind hob jedoch nur die Späne von den neuen Brettern auf und ließ die Späne von den alten Brettern liegen. Erstaunt beobachtete der Vater Anna Katharinas Tun und fragte, warum sie denn nicht alle Späne sammle. Darauf entgegnete die Angeredete, das tue sie deswegen nicht, weil die Späne von den alten Brettern doch nicht ihnen, sondern dem Nachbarn gehörten. Bei dieser Antwort schüttelte der Vater den Kopf, blickte betroffen die Mutter an und sprach: „Was haben wir doch ein wunderliches Kind!“
Besser hätte der Mann getan, wenn er gesagt hätte: „Was haben wir doch ein Wunderkind!“, denn wenn ein Kind eine solche Zartheit des Gewissens besitzt, wie sie Anna Katharina bei dem erwähnten Vorfall an den Tag legte, so ist das nicht wunderlich, sondern wundervoll.
Anna Katharina Emmerick war aber nicht nur wegen ihrer Ehrlichkeit, sondern ganz allgemein ein Wunderkind. Im Jahre 1774 wurde sie am Fest Mariä Geburt geboren, und gleich nach der Taufe erhielt sie als eine besondere Gnade Gottes den vollen Gebrauch der Vernunft. Die Engel spielten mit dem Kind. Gemeinsam sammelten sie Blumen auf den Wiesen und am Rand der Getreidefelder, wanden sie zu Kränzen und brachten die Kränze dem Jesuskind und seiner Mutter. Das alles sah Anna Katharina mit ihren hellen begnadeten Augen. Zuweilen begegnete ihr auch der kreuztragende Heiland, und die Armen Seelen umschwebten sie als leuchtende Flämmchen, und von all diesen Dingen plauderte Anna Katharina arglos, denn sie war der Meinung, dass alle Menschen ohne Ausnahme sähen, was sie allein schauen durfte. Erst als sie merkte, dass es sich nicht so verhielt, sprach sie auch nicht mehr von den Schauungen.
Früh musste Anna Katharina kräftig bei der Arbeit helfen, musste den Ackergaul von der Weide holen, musste mit dem Vater auf das Feld, musste das Pferd an der Leine führen, die Egge heben und andere Dinge tun. Weil auch der Vater ein frommer Mann war, beteten die beiden häufig miteinander. Wenn sie beim Ackern wendeten oder ein Weilchen ruhten, wies der Vater auf den Kirchturm hin und sagte: „Da wollen wir den lieben Heiland im Sakrament von weitem grüßen, und dann grüßt er auch uns und segnet unsere Arbeit.“
Nachdem Anna Katharina im Alter von sieben Jahren die erste heilige Beichte abgelegt hatte, erschien ihr immer häufiger der kreuztragende Heiland und forderte sie auf, ihm das Kreuz tragen zu helfen. Gern war sie dazu bereit, und es kamen daher mancherlei Beschwerden über sie, wie Kopf- und Zahnschmerzen, die sie zur Sühne für die Sünden der Menschen geduldig ertrug. Auch zähmte sie die Gaumenlust, indem sie auf Speisen, die ihr gut schmeckten, verzichtete, und weil sie ein solch gutes Herz hatte, dass sie keinen Menschen leiden sehen konnte, bat sie Gott, ihr die Krankheiten der anderen aufzulegen, was dann auch oft eintrat.
Als Anna Katharina mit vierundzwanzig Jahren einst in der Kirche betete, trat der göttliche Heiland sichtbar auf sie zu und bot ihr zur Wahl einen Blumen- und einen Dornenkranz. Sofort griff sie zu dem Dornenkranz , und von diesem Augenblick an wurde sie die Leidensbraut des Herrn; sie empfing, allen sichtbar, die heiligen Wundmale und hat bis zu ihrem Tod am 9. Februar 1824 unerhörte Schmerzen ausstehen müssen. Es geschah das zur Sühne für die Sünden der Welt in Vereinigung mit dem bitteren Leiden des lieben Heilandes, an das uns die Fastenzeit eindringlich erinnert.
Am 3. Oktober 2004 waren viele Blicke nach Rom gerichtet: Anna Katharina Emmerick, die "Mystikerin des Münsterlandes", wurde von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen.
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Josef Michels, Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, 1956
Das Liebeswerk eines unablässigen Opfers für die leidende Welt gibt dem Landmädchen von Dülmen Anna Katharina Emmerick die Größe eines an Gnaden reichen Lebens, das uns mit Verehrung und Dankbarkeit erfüllt. Sie kannte nur den einen Wunsch, sich selbst mit allem, was Gott ihr an Kräften des Herzens und der Seele gab, den Notleidenden hinzugeben.
Als Tochter armer und frommer Bauersleute in Flamske bei Coesfeld im Bistum Münster am 8. September 1774 geboren, hatte sie schon von früh an ein inniges, ganz aus der Unschuld ihres Herzens gewonnenes Verhältnis zu Christus, seiner himmlischen Mutter und den Heiligen. Sie fühlte sich zu Orten hingezogen, an denen einmal schwere Schuld geschehen war und wo sie durch sühnendes Gebet für die Vergehen anderer büßen wollte. Als junges Mädchen ging sie für die Seelen der Verstorbenen in strenger Winternacht barfuß durch den Schnee den langen Kreuzweg bei Coesfeld. Meist verbrachte sie den größten Teil der Nacht im Gebet und nahm am Tag die schwersten Feldarbeiten auf sich. Von früher Jugend an erlaubte sie sich nur das Allernotwendigste an Schlaf und Nahrung und lag auf hartem Lager. Ihre Sehnsucht, in ein Kloster einzutreten, wurde bei ihrer Mittellosigkeit – das Ersparte schenkte sie immer wieder den Armen – erst nach mancherlei Schwierigkeiten erfüllt.
Schon vier Jahre vor ihrem Eintritt ins Kloster, und zwar in ihrem vierundzwanzigsten Lebensjahr, als sie in der Jesuitenkirche zu Coesfeld auf der Orgelbühne vor einem Kruzifix kniete, empfing sie die Wundmale der Dornenkrone. Nach ihrer Erzählung sah sie vom Altar her ihren himmlischen Bräutigam vor sich hintreten.
„Seine Linke hielt einen Blumenkranz, seine Rechte eine Dornenkrone, er setzte sie mir auf, und ich drückte sie mit beiden Händen auf den Kopf, worauf er verschwand und ich mit einem heftigen Schmerz rings um das Haupt wieder zur Besinnung kam.“
Wir entnehmen diesem Bericht der ergreifenden Lebensbeschreibung, die wir dem Dichter Clemens Brentano verdanken. Dieser berichtete auch, er habe das Niederströmen des Blutes über die Stirn und das Antlitz bei hellem Tag in vollkommener Nähe vor seinen Augen mehrmals in solchem Maß gesehen, dass das Blut ihr Halstuch reichlich überrann. (Brentano und mit ihm die späteren Chronisten gebrauchen die Schreibart Emmerich, während heute Emmerick gebräuchlich ist, wie auch der eigene Namenszug der Begnadeten sowie die Geburts- und Taufurkunden zeigen.)
Am 13. November 1802 wurde Anna Katharina als Novizin bei den Augustinerinnen in Dülmen eingekleidet, ein Jahr später legte sie die feierlichen Gelübde ab. Keine ihrer Mitschwestern, kein Priester und kein Arzt wussten um die Erscheinungsformen ihres inneren Lebens und die sichtbaren Zeichen. Indem sie versuchte, ihren Zustand geheim zu halten, und sich absonderte, galt sie als eigensinnig und setzte sich ungerechter Verfolgung aus. Sie ertrug alles mit Liebe und Geduld. „Ich hatte einen Stuhl ohne Sitz und einen Stuhl ohne Lehne in meiner Zelle, und sie war doch so voll und prächtig, dass mir oft der ganze Himmel darin zu sein schien.“
Ihr zarter Körper, von früh auf durch Entbehrungen noch mehr entkräftet, in jeder Zeit den schwersten Feldarbeiten hingegeben und unter Steigerung der seelischen Zustände von andauernder innerer Spannung ergriffen, erkrankte des Öfteren. Aber ihre Krankheiten hatten auch eine andere Veranlassung. Wir besitzen vor allem aus der späteren Zeit ihres Lebens, als sie immer hinfälliger wurde, viele Augenzeugenberichte, denen zufolge ein großer Teil ihrer Krankheiten und Schmerzen aus übernommenem Leiden für andere entsprang. Sie flehte die Krankheit eines anderen auf sich herüber und litt sie aus. Sie selbst sagte (Nach Brentano): „Ruhig leiden zu können, ist mir immer als der beneidenswerteste Zustand des Menschen erschienen, ja, wäre der Neid keine Unvollkommenheit, die Engel würden uns um das Leidensvermögen beneiden.“
Im Herbst 1811 wurde das Kloster aufgehoben. Anna Katharina bezog ein Kämmerchen bei einer armen Witwe des Ortes. Am 28. August empfing sie in der Ekstase das einem Muttermal ähnliche Zeichen eines Kreuzes in der Magengegend, das sich später öfter wie mit einer Brandblase bedeckte (so berichtet Brentano), die besonders abends sich öffnete und eine brennende, farblose Feuchtigkeit ergoss. Einige Wochen später wurde in einer ähnlichen Ekstase ein Gabelkreuz auf dem Brustbein sichtbar, und um Weihnachten erschien ein kleiner Fortsatz in gleicher Kreuzgestalt. Dieses Brustkreuz schwitzte anfangs jeden Mittwoch und später an den Freitagen Blut aus. Von 1814 ab wurde die Blutung seltener, erschien aber immer noch, besonders an den Karfreitagen. Am 29. Dezember 1812 sah sie die Lichtgestalt des Gekreuzigten, seine Wunden leuchteten, und sie fühlte den heißen Wunsch mitzuleiden; damals trat ihre Stigmatisation ein.
Clemens Brentano kam im September 1818 nach Dülmen und fand die Leidende in unwürdigen Zuständen der Schaulust der Menge preisgegeben. Er wurde zum Bewahrer der inneren Gesichte des stillen, opfervollen Heldentums. Bis zu ihrem Tod am 9. Februar 1824 saß Brentano an ihrem Lager und schrieb auf, was er an ihr bemerkte oder was sie ihm aus ihrem inneren und äußeren Leben erzählte. Es sind elf Manuskriptbände geworden; Brentano hat nur das „Leiden unseres Herrn Jesu Christi“ selbst herausgegeben. Zehn Jahre nach seinem Tod – er starb 1842 – erschien das „Marienleben“, 1858 das „Leben Jesu Christi“.
Wohl hat Brentano die Gesichte der Katharina Emmerick zu dichterischem Bild gerundet und aus fremden Aufzeichnungen manches hinzugetan, und er hat dieses auch der Luise Hensel gestanden. Der Wahrheitsgehalt des Dülmener Erlebens wird dadurch nicht in Frage gestellt. Von einer großartigen Schau- und Bildkraft sind diese Aufzeichnungen, zu denen Clemens Brentano sich nicht nur gedrängt fühlte um der Einmaligkeit dieses Lebens willen, sondern weil er überzeugt war, dass Gott sich durch seine Dienerin offenbarte in seiner Größe, Liebe und Unvergänglichkeit.