Der Segen des heiligen Edmund
Es war in einer Novembernacht des Jahres 1240. In einer Zelle der regulierten Chorherren zu Soisoy in Frankreich lag Edmund Rich, der heilige Erzbischof von Canterbury und Primas von England, auf dem Sterbebett. Bei ihm wachte sein treuergebener Kaplan Bertrand zu seiner Pflege und Bedienung. Der Kranke hatte eben nach seiner Gewohnheit sich die Stirn mit dem Namen Jesus bezeichnet, als er sich zu Bertrand wandte mit der Mahnung: „Sei darauf bedacht, jeden Abend vor dem Schlafengehen die Worte: Jesus von Nazareth, König der Juden – er meinte die Anfangsbuchstaben der lateinischen Worte Jesus Nazarenus Rex Judaeorum – auf deine Stirn zu zeichnen.“ Und dann erzählte der Erzbischof in demütiger Vertraulichkeit seinem Kaplan das wunderbare Vorkommnis, von dem dieser sein frommer Brauch sich herschrieb.
„Als ich“, so lautete seine Erzählung, „zu Oxford die niederen Schulen besuchte, gingen eines Tages meine Kameraden vor die Stadt hinaus, um auf einer Wiese zu spielen, und ich schloss mich ihnen an, weil ich nicht als Sonderling erscheinen wollte. Während indes meine Mitschüler sich mit dem Spiel vergnügten, ging ich, mit frommen Gedanken beschäftigt, im angrenzenden Wäldchen allein spazieren. Plötzlich sah ich vor mir einen überaus holdseligen Knaben, der mich beim Namen nannte und freundlich grüßte. Betroffen von der Erscheinung und dem Gruß, blieb ich stillschweigend stehen. Da sagte der Knabe: „Edmund, kennst du mich nicht?“ Worauf ich in aller Einfalt antwortete: „Nein, ich erinnere mich nicht, jemals dich gesehen zu haben.“ Darauf der Knabe: „Das wundert mich, dass du mich nicht kennst. Sitze ich doch in der Schule neben dir zu deiner Rechten, und wo immer du hingehst, bin ich als dein Gefährte bei dir. Schau mir ins Angesicht und beachte, was auf meiner Stirn geschrieben steht!“ Bewundernd blickte ich auf und las auf seiner Stirn in leuchtenden Buchstaben die Worte: „Jesus von Nazareth, König der Juden.“ Dann fuhr die Erscheinung fort: „Edmund, ich bin der, dem zuliebe du dich so oft durch Fasten kasteist, und von dessen Güte du den Lohn dafür erwartest. Sei versichert, all das Begehrenswerte, das dir deine Mutter versprach, wenn du treu bis ans Ende ausharrst, wird dir mehr als hundertfältig zuteilwerden.“ Nun machte mir der Knabe die Zeichen auf meine Stirn und sprach: „Bezeichne dich oft mit diesen Buchstaben und denke dabei an mich!“ Nach diesen Worten verschwand der Knabe sowie der Glast, der ihn umstrahlt hatte. Den Platz, wo die Erscheinung stattfand, erfüllte ein lieblicher Wohlgeruch, mein Herz aber durchdrang eine unaussprechliche Freude und Wonne, die mich über die Wirklichkeit der göttlichen Heimsuchung nicht in Zweifel ließen.
Ich folgte daher der höheren Weisung und seitdem habe ich die Gewohnheit, mich nicht bloß auf der Stirn häufig mit dem heiligen Namen zu bezeichnen, sondern auch meine Sinne und Glieder auf diese Weise zu segnen.“
Des heiligen Erzbischofs Erzählung, sein Beispiel und seine ausdrückliche Aufforderung verfehlten ihre Wirkung auf Bertrand nicht. Auch er eignete sich die Gewohnheit an, sich in der Weise zu segnen, wie er es so oft bei Edmund gesehen hatte. Der fromme Brauch fand dann bald vielfach bei Laien und Geistlichen Eingang, da sowohl Bertrand in seiner Biographie des Erzbischofes als auch zwei andere Vertraute des Heiligen in ihren Lebensbeschreibungen desselben von dieser wunderbaren Erscheinung und der Gewohnheit Edmunds berichten.
Hier haben wir wohl den Ursprung der früher weitverbreiteten Gebetsformel, die unter dem Namen „Segen des heiligen Edmund von Canterbury“ bekannt ist, und also lautet: „Jesus von Nazareth, König der Juden!“
Dieser siegreiche Titel verteidige uns vor allen Übeln! Heiliger Gott! Heiliger, starker Gott! Heiliger, unsterblicher Gott! Erbarme dich unser!