Für das Heiligwerden ist es im Allgemeinen nicht von Vorteil, wenn einer immer von Ort zu Ort wandert und sein Leben bald an dieser, bald an jener heiligen Stätte zubringt. Denn die innere Sammlung und die Beständigkeit des Geistes kann dabei nur schwer bewahrt werden. Und die Schar von berufsmäßigen Wallfahrern, wie sie zu manchen Zeiten des Mittelalters durch die Lande zogen, Litaneien singend und die Geißel schwingend, von einem berühmten Heiligtum zum andern, war oft nichts weniger als heilig, im Gegenteil manchmal eine rechte Landplage. Und doch hat Gott auch unter ihnen seine Auserwählten gefunden und für manchen ist an den großen Gnadenstätten wirklich ein Brünnlein der Heiligkeit gesprudelt. Von einem solchen Heiligen will ich dir heute erzählen. Es ist der heilige Famian.
Eigentlich hieß er Gerhard – die Südländer machten Quardo daraus – und war ein Kölner Kind. 1090 erblickte er als Sprössling einer Patrizierfamilie das Licht der Welt. Mit den Reichtümern vermittelten ihm seine Eltern vor allem eine gediegene, christliche Erziehung, deren Früchte sich bald offenbarten. Die irdischen Schätze übten auf die Seele Gerhards keine Anziehungskraft aus; er gab sie lieber den Armen und lebte in anspruchsloser Dürftigkeit. Seine Freude war die Betrachtung des Leidens Christi, dessen siegreiches Zeichen er immer auf seiner Brust trug. Schließlich wollte er auf alles verzichten. Achtzehn Jahre war er alt, als er Eltern und Heimat und alles, was sie ihm bieten konnten, verließ und sich auf die Pilgerfahrt gen Süden machte. Sie dauerte sechs Jahre. Wir können daraus schließen, dass er das Wallfahren als seinen Beruf auffassen wollte. Von den Missbräuchen, wie sie damals vorkamen, hielt sich Famian fern. Für ihn war die Wallfahrt wirklich eine Gebets- und Bußfahrt. Alle Zeit sandte er für sein und aller Menschen Heil inbrünstige Gebete zu Gott dem Herrn empor. Damit verband er Bußwerke mancherlei Art, Fasten und Geißeln, als ob die Strapazen der Reise nicht allein schon genug gewesen wären und das Betteln von Tür zu Tür nicht allen Stolz in dem Patriziersohn hätte ersticken müssen.
Ende September 1114 langte Famian am Ziel seiner Pilgerfahrt an, den Rest des Jahres verbrachte er in Rom, unermüdlich die Gotteshäuser besuchend und Buße übend. Aber die ewige Stadt war erst eines seiner Ziele. Seine Sehnsucht flog hinüber nach Spanien zum Grab des heiligen Jakob in Compostella. So hoch stand dieses Heiligtum in seinen Augen, dass er, in Spanisch-Galizien angekommen, erst drei Jahre bei einem Einsiedler in die Schule ging, um dann möglichst rein und heilig sich dem Apostel nahen zu können. Hier lernte er nun etwas Vollkommeneres kennen als das Wallfahren, den Dienst Gottes in Weltabgeschiedenheit und Ortsbeständigkeit. Als er deshalb seine Andacht in Santiago de Compostella befriedigt hatte, suchte er wieder die Einsamkeit auf. In einem Wald am Fluss Minon baute er sich eine Klause und führte daselbst sein strenges Bußleben weiter – fünfundzwanzig Jahre lang. Seine Nahrung waren Wurzeln und Kräuter, sein Getränk das Wasser des Flusses. Im nahen Kloster der Martyrer Kosmas und Damian holte sich seine Seele ihre Speise in Anhörung der Predigt und Empfang der heiligsten Sakramente.
Im Jahr 1144 kam unser Heiliger zu dem Entschluss in das Zisterzienserkloster Osera einzutreten. Diese Abtei war 1140 durch Mönche von Clairvaux dem Orden zugeführt worden, und die ganze Gegend war voll des Lobes über die Heiligkeit und große Lebensstrenge der Bewohner. Ein solcher Ruf zog auch Famian an und der Abt Garcias und seine Mönche waren ihrerseits hocherfreut über die Ankunft des Gottesmannes. Ob jedoch Famian wirklich Profess auf die Benediktinerregel abgelegt hat, ist recht zweifelhaft. Sicher aber wurde er in den geistlichen Verband der Klostergemeinde aufgenommen. Er galt als familiaris, d.h. als Glied der Klosterfamilie und stand von jetzt ab unter dem Gehorsam des Abtes. Dieser wies ihm in der Folge die Kapelle des heiligen Laurentius zum Aufenthalt an. Wenn er nicht ohnehin schon Priester war, ließ er ihm die heiligen Weihen geben. Mit der Erlaubnis und dem Segen des Abtes machte sich Famian im Jahr 1146 wieder auf die Wanderschaft. Er wollte auch noch jene Orte besuchen und verehren, die unser Herr selbst durch sein Leben und Leiden geweiht hat, sei es dass er ein Gelübde dahin gemacht, sei es dass seine Pilgernatur wieder zum Durchbruch kam. Aber sein Körper war den Beschwerlichkeiten einer solchen Reise nicht mehr gewachsen. Im Heiligen Land angekommen, fühle er das Ende seines Lebens nahen. Um nicht in der Fremde sterben zu müssen, wollte er schleunigst wieder zu seinen Mitbrüdern nach Spanien heimkehren.
Im Jahr 1150 treffen wir Famian wieder in Rom. Aber hier erschienen ihm im Traum die Apostelfürsten Petrus und Paulus und gaben ihm die Weisung nach Gallese zu gehen, einem Städtchen unweit Rom im Faliskerland. Sogleich brach der Heilige dahin auf. Kaum fünfzehn Tage war er dort, so packte ihn die Todeskrankheit. Er ließ sofort den Erzpriester der Stadt rufen und sich von ihm die heiligen Sterbesakramente reichen. Dann teilte er ihm mit, dass er nach acht Tagen sterben werde. Auch zeigte er ihm von der Stadtmauer aus, an der das Haus des Ascarus, seines Herberggebers, lag, den Platz, wo er begraben zu werden wünschte. Es war ein kleines Gärtlein draußen vor den Toren und nicht die Marienkirche, wie der Pfarrer es ihm vorschlug und worauf er als Priester Anspruch gehabt hätte. Als der Tag des Hinscheidens heraufdämmerte, der 8. August 1150, versammelte sich der ganze Klerus der Stadt am Sterbelager des Fremdlings. Auch der Herbergswirt Ascarus, der schon lange von einem schweren Nierenleiden heimgesucht war, ließ sich zum Heiligen tragen. An ihm geschah das erste Wunder. Im selben Augenblick, als er sich niederbeugte und die Hand seines Gastes küsste, war jede Spur der Krankheit verschwunden.
Mit diesem Wunder beschloss der Heilige seinen Lebenslauf, mit diesem Wunder eröffnete er eine ganze Reihe von Krankenheilungen und sonstigen auffälligen Gnadenerweisen an seinem Grab. So zahlreich waren sie, dass schon nach fünf Jahren Papst Hadrian IV. ihn unter die Zahl der Heiligen versetzte und zugleich seinen Namen Quardus in Famianus, der „Weitberühmte“, änderte. Über seinem Grab erhob sich eine prächtige dreischiffige Basilika. Noch heute halten die Einwohner von Gallese ihren Schutzheiligen in hohen Ehren. Sie haben ihn ja gleichsam noch lebendig in ihrer Mitte, nicht bloß durch seine fortdauernde Wunderwirksamkeit, auch sein Leib ist nach fast neunhundert Jahren noch ganz frisch und unversehrt. Ein deutscher Pilger beschreibt ihn folgendermaßen: „Wir erblicken in der Tiefe des Grabes den mit dem weißen Gewand und dem schwarzen Skapulier der Zisterzienser bekleideten heiligen Gerhard von Köln. Das mit der Kapuze umhüllte Haupt ruht auf einem großen Buch. Die Gesichtszüge sind fein und regelmäßig, der Leib frisch und zart, wie wenn er sanft im Grab schlummerte.“ Die Verwesung hatte an dem Leib „des jungfräulichen Sohnes der Stadt Köln und gottentflammten Pilgers, des heiligen Priesters und Mönches“ keinen Teil. So können Rompilger aus Deutschland die Wunder der Allmacht Gottes nicht nur an den unverwesten Leibern der heiligen Katharina von Bologna in dieser Stadt und der heiligen Klara in Assisi schauen und preisen, sondern in fast noch auffallenderer Weise auch an unserem vergessenen Landsmann, dem heiligen Gerhard-Famian, in der einsamen Kirche eines heute verlassenen Klosters bei Gallese an der Bahn Rom-Florenz.
Nicht jeder hat das große Glück, ins Heilige Land oder nach Rom oder sonst einem berühmten Heiligtum pilgern zu können. Pilgrime und Wallfahrer sind jedoch wir Menschenkinder alle, Wallfahrer zum großen Gnadenort des Himmels. Möge der heilige Gerhard-Famian uns ein guter Geleitsmann sein auf dieser Pilgerreise!